Wider der demografischen Ignoranz

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Weltbevölkerungsprognose 2100

Am 31. Oktober 2011 wird der sieben milliardste Mensch auf der Erde geboren. Ob er oder sie sich auf das Leben freuen darf, oder ob es zu einer Qual wird und schnell endet, bleibt offen. Nicht zuletzt hängt viel davon ab, ob die Eltern des Kindes in einer Wellblechhütte in einem Großstadtslum hausen, eine Bauernfamilie mit eigenem Land sind, oder der bürgerlichen Mittelschicht in einem Industrieland angehören.
Das Kind wird sich in den nächsten Jahrzehnten die natürlichen Ressourcen dieser Welt mit vielen und mehr werdenden Menschen teilen müssen. Der Verlauf seines Schicksals ist dann nicht nur individuell und vom Zufall abhängig, sondern von der Lösung aller Menschen, sich eine gerechte Zukunft zu geben.
Dass es der 31. Oktober wird ist ein Rechenbeispiel. Wer es wo genau sein wird, kann nicht im Detail bestimmt werden. Aber der Tag hat nach Dr. Thomas Büttner von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) und stellvertretender Direktor der UN-Bevölkerungsabteilung angesichts der runden Zahl einen hohen symbolischen Wert. Es hat dann nur 13 Jahre gedauert, bis eine neue Milliarde an Menschen hinzugekommen ist, sagte er am Dienstag in Berlin anlässlich der aktuellen Weltbevölkerungsprognose der Vereinten Nationen.

2050 und 2100

Die Prognose über die Weltbevölkerung aus dem Jahr 2009 zum Jahr 2050 musste um 200 Millionen Menschen nach oben korrigiert werden. Das liegt daran, dass die Fertilität nicht so sank, wie prognostiziert, erklärt DSW-Geschäftsführerin Renate Bähr.
In diesem Jahr hat die UN auch eine Prognose bis in das Jahr 2100 gewagt. Nicht nur aus Neugierde, so Dr. Büttner, sondern vor allem um den Herausforderungen von Klimawandel und Ressourcenverfügbarkeit langfristig entgegentreten zu können.
Und die aktuellen Zahlen für das Jahr 2100 sagen 10,1 Milliarden Menschen voraus. Heute leben 1,2 Milliarden Menschen in den Industrieländern, 850 Millionen in den am wenigsten entwickelten und 5,7 Milliarden in den Entwicklungsländern. Die rund vier Milliarden Menschen, die noch hinzukommen werden fast ausschließlich in den Entwicklungsländern geboren werden.

Unterschiedliches Wachstum

Die Prognose ist von der Entwicklung der Fertilität abhängig. Die 10 Milliarden Menschen entsprechen der mittleren Variante, bei der Frauen nur noch zwei Kinder gebären, was die Demografen als „Ersatzniveau“ bezeichnen. Ein Kind mehr würde gleich 10 Milliarden Menschen mehr bedeuten. Würde weltweit die heutige Fertilitätsrate überall beibehalten werden, dann stiege die Bevölkerung sogar auf 26,8 Milliarden Menschen.
Die letzte Variante hält Dr. Büttner für unwahrscheinlich. Es sei in den letzten Jahrzehnten ein „qualifizierter Fortschritt“ zu verzeichnen: Es steigt die Lebenserwartung und sinkt die Fertilität:

Wäre die Kindersterblichkeit nicht deutlich gesunken, hätte sich die Erkenntnis nicht durchgesetzt, dass mehr Kinder überleben und weniger Kinder für das Überleben der Familie notwendig sind. „Dann sähe die Welt bereits heute ganz anders aus“, so Dr. Büttner.

Ansatzpunkt Familienplanung

Ob viele Menschen ein Segen für die Kreativität und den kulturellen Austausch sind, oder ob zehn Milliarden Menschen ein Horrorszenarium für die endlichen Ressourcen und das friedliche Zusammenleben bilden, liegt letztlich in der gesellschaftlichen Ausgestaltung des Miteinanders.
Die Realität erlaubt Skepsis. Stimmen die Rahmenbedingungen nicht, dann ist eine Gesellschaft mit jungen ausgebildeten, aber perspektivlosen Menschen krisen- und konfliktanfällig, so Renate Bähr. In zehn Jahren könnte Afrika südlich der Sahara in Aufständen entflammen.
Die Bevölkerungsentwicklung hat eine eigene Dynamik mit hohem Trägheitswert auf Eingriffe zu reagieren, so Dr. Büttner. Daher sind Maßnahmen ähnlich komplex, wie die Auswirkungen des stetigen Bevölkerungswachstums. Statistische Korrelationen zwischen Wachstumsrückgang und steigendem Wohlstand lassen sich nicht zwingend herstellen, so Dr. Büttner. Was hilft sind gesellschaftliche und kulturelle Strukturen, die bis in das letzte Dorf reichen - wenn Dr. Büttner mit China und dem Iran nach dem Schah auch auf autokratische Beispiele zurückgreifen muss.
Aber das Prinzip der gesellschaftlichen Durchdringung ist der Schlüssel zum Erfolg, um über das zentrale Anliegen des DSW, Aufklärung und Familienplanung, die „Unerreichbaren“ zu erreichen. Freiwilligkeit ist das Prinzip des DSW, die auf Wissen und Integrität beruht. Dann können zentrale Probleme gelöst werden. Darunter zählen beispielsweise 75 Millionen ungewollte Schwangerschaften in den Entwicklungsländern und die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln. Denn nach dem aktuellen Bericht würden weltweit 215 Millionen Frauen gern verhüten, stünden die Möglichkeiten zur Verfügung. Es könnte auch ein Ende von Teenagerschwangerschaften bedeuten. Jährlich bekommen 14 Millionen junge Frauen zwischen 15 und 19 Jahren ein Kind und müssen ihre Ausbildung beenden.
Ein ausreichender Zugang zur Familienplanung könnte in Lateinamerika die Geburtenrate um 30 Prozent, in Afrika südlich der Sahara um 23 Prozent, in den arabischen Staaten um 21 und in Südostasien um 19 Prozent senken. Den Finanzbedarf dafür gibt die DSW mit jährlich 6,7 Milliarden US-Dollar an. Doppelt so viel als derzeit bereit gestellt wird.

Alles oder nichts

Renate Bähr sieht die Bevölkerungsentwicklung über allen anderen Problemen wie dem Klimawandel und der Energie- und Nahrungsversorgung schweben. Schon jetzt hält sie die Millenniumsentwicklungsziele für nicht erreichbar, denn alleine die Zahl der neu hinzugekommenen Menschen hebelt die Ziele, wie die Zahl der Hungernden Menschen halbieren zu wollen, aus. Bähr spricht zwar von einer „demografischen Ignoranz“, doch auch ein „Aufwachen“ und eine Sensibilisierung der Politik für dieses Thema.
Ein ungelöstes Problem ist die Verstädterung. Die Bürgermeister der Megacities würden am liebsten niemanden mehr in die Stadt lassen, so Dr. Büttner zu Herd-und-Hof.de. Während europäische Städte meist langsam gewachsen sind und ihre Infrastruktur anpassen konnten, stehen die Megacities vor unlösbaren Problemen. Hier brauche es, auch mit Blick auf die Entwicklung der ländlichen Räume, Weitsicht und Verständnis, die komplexe Situation zu erfassen, so Dr. Büttner.

Lesestoff:
Detailzahlen und mehr Fakten unter: www.weltbevoelkerung.de und www.unpopulation.org

Roland Krieg; Foto: Übung macht den Meister: Im DSW-Jugendclub kann jeder ausprobieren, wie Kondome funktionieren. Deutsche Stiftung Weltbevölkerung

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