Wird 2016 ein Krisenjahr?
Handel
BGA erwartet ein schwieriges Jahr
>Zu oft offenbart sich der Wert erst, nachdem ein Mensch, ein Gegenstand oder ein Zustand verloren gegangen ist. Daher nutzte Anton F. Börner am Dienstag die Grosshandelspressekonferenz in Berlin zur ausführlichen Auflistung der 2016 zu bewältigenden Krisen – nicht ohne die positiven Leistungen des vergangenen Jahres zu vergessen.Außenhandel auf Rekordkurs
Der Präsident des Bundesverbandes Großhandle, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) Anton Börner erwartet nach Abrechnung aller Bilanzen von 2015 einen Anstieg der deutschen Exporte um sechs Prozent auf 1.191 Milliarden Euro. Die Importe werden um vier Prozent auf 947 Milliarden Euro steigen. In den nächsten 12 Monaten werde das Wachstum real um 1,25 Prozent steigen.
Das deckt sich mit anderen Barometern. Das ifo-Institut zeigte sich vor Weihnachten zuversichtlich, dass die deutschen Unternehmen mehr investieren. Niedriger Ölpreis, niedrige Zinsen und gute Finanzierungsbedingungen brächten endlich Früchte – vor allem für die großen Unternehmen, während die Kleinen eher abspecken werden. Das Institut der Deutschen Wirtschaft rechnete vor, dass 29 von 47 Wirtschaftsverbänden mit einem Produktionsanstieg rechnen. Ungetrübt ist die Freude nicht. Handwerker und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sehen Gegenwind aus der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Börner zeigte sich am Dienstag mit seiner Wachstumsprognose vorsichtig. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer legt an der zweiten Stelle hinter dem Komma leicht zu und rechnet mit 1,3 Prozent, die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute pegeln sich sogar um die 1,8 Prozent ein.
Mosaik der guten Stimmung
Zwar ist das Großhandelsklima zu Jahresbeginn gefallen, aber mit Blick auf die Umfragewerte der BGA-Unternehmen nur vom Rekordniveau auf ein sehr hohes Niveau. Das Stimmungstief der Finanzkrise ist weit entfernt. „Oszillation auf hohem Niveau“, heißt es beim BGA.
In Deutschland gibt es derzeit so viel Beschäftigte wie noch nie nach der Wiedervereinigung. Seit zehn Jahren hält der Trend steigender Beschäftigung an und legte 2015 zwar nur leicht, aber doch wieder um 0,8 Prozent oder 324.000 Personen zu. Das Statistische Bundesamt konnte seit 1989 erstmals auch wieder weniger als zwei Millionen Arbeitslose vermelden. Gegenüber 2014 sank die Quote um 6,7 Prozent. Mit einer Erwerbslosenquote von 4,3 Prozent weist Deutschland nur die Hälfte des europäischen Durchschnittes auf.
Das positive Bild gilt auch für die Firmen des BGA. Im letzten Jahr konnten 11.000 Menschen neu angestellt werden, für dieses Jahr rechnet der BGA mit weiteren 5.000 neuen Arbeitsplätzen. Mit dem neuen Beschäftigungsrekord von 1,932 Millionen Menschen gehört der Groß- und Außenhandel weiterhin zu den größten Arbeitgebern in Deutschland.
Schon alleine deshalb bietet der Flüchtlingsstrom mehr Chancen als Risiken. Bereits sieben Prozent der BGA-Unternehmen beschäftigen Flüchtlinge und weitere 40 Prozent überlegen diesen Schritt. Grundvoraussetzung sind Deutschkenntnisse, sagen 92 Prozent der Unternehmer, Grundkenntnisse wie Lesen, Schreiben und Rechnen ist für 70 Prozent bedeutend, handwerkliche Fähigkeiten fallen mit 40 Prozent schon ab und nur noch 26 Prozent setzen eine abgeschlossene Schul- oder Hochschulausbildung voraus. Aktuell überwiegen Arbeitsplätze in den Bereichen der einfachen Helfertätigkeiten wie beispielsweise in Lägern (40 Prozent) und Praktikums- sowie Ausbildungsangebote (26 Prozent). Der Großhandel kann den Flüchtlingen eine berufliche Perspektive für den Einstieg in das Arbeitsleben und damit in die Integration geben. Die Politik müsse schnell für einfache Klarheiten des Aufenthaltsstatus als Voraussetzung für eine Beschäftigung sorgen.
„Bange machen gilt nicht“
Vor dem Hintergrund der Terrorgefahr senden die Unternehmen ein starkes Signal aus. 85 Prozent der Firmenchefs sehen sich durch Antiterrorismusmaßnahmen nicht behindert und 95 Prozent setzen die Reiseaktivitäten ihrer Mitarbeiter ungehindert fort. Spanische Gemüsehändler hatten vor einigen Monaten über lange Wartezeiten bei Grenzkontrollen zwischen Spanien und Frankreich geklagt. Herd-und-Hof.de fand das bei deutschen Unternehmen nach Auskunft der Bundespolizei nicht bestätigt [1]. In der BGA-Umfrage gaben auch nur fünf Prozent der Firmen an, durch längere Grenzkontrollen behindert zu werden.
Anpacken statt Jammern
Für einen Wirtschaftsverband formuliert Präsident Börner zunächst einmal die finanzpolitischen Rahmenbedingungen für eine weiterhin gute wirtschaftliche Tätigkeit. Deutschland und Europa müssten endlich den Reformstau angehen. Zur Beseitigung von Engpässen bei der Kreditvergabe bis zur Verbesserung der Infrastruktur müssen „Unwillen und Unvermögen Europas, die Ursachen der Euroschuldenkrise endlich konsequent“ überwunden werden. Die Niedrigzinspolitik schade dem erarbeiteten Vermögen der Bürger und unterminiere das Vertrauen in Europa. Auch wenn es mit Blick auf die mediterranen Länder ein „ächzender Weg“ wird, müsste den Bürgern deutlicher gemacht werden, das erhalten werden muss, was Europa in den letzten 70 Jahren geschaffen hat. „Wisst ihr, mit was ihr spielt? Wisst ihr wen ihr wählt? Wisst ihr an welchen Demos ihr teilnehmt?“, lautete das Fragenstakkato Börners.
Er will das wirklich als zivilgesellschaftliche Mahnung verstanden wissen, denn er fürchtet die „innere Erosion Europas“ durch Populisten und Nationalisten. Gerade die „Leuchttürme des Liberalismus“, die Skandinavier, steigen in den Gegentrend der Abschottung ein. Heute hat EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos den dänischen Innenminister Inger Stojberg, den schwedischen Migrationsminister Morgan Johannson sowie den Parlamentarischen Staatssekretär des schwedischen Innenministeriums Ole Schröder wegen der eingeführten Grenzkontrollen zu einem klärenden Gespräch geladen.
Die Skandinavier sind nicht allein, ergänzt Börner. Was auch schon Ungarn länger vormacht, geschieht gerade in Polen. Die einseitige Missachtung europäischer Werte „ist keine Bagatelle“, betont Börner und schließt wie selten zuvor den Kreis zwischen Ökonomie und Politik.
Europa in Not
Die Hauptaufgabe der Europäer in den nächsten Jahren werde die Erhaltung Europas sein. Deutschland spiele dabei eine Schlüsselrolle, werde aber wegen seiner Austeritätspolitik von den Reformunwilligen als Schuldiger für die schlechte Wirtschaftssituation im eigenen Land festgemacht. Frankreich steuere auf eine Schicksalswahl für Europa zu. Rund die Hälfte der Italiener wolle aus dem Euro und vielleicht sogar aus Europa raus, der Verbleib Großbritanniens sei derzeit völlig offen, Polen verhalte sich derzeit „völlig intolerabel“ und Bulgarien und Rumänien leiden unter Rechtsunsicherheit und Korruption. Lediglich der Bundestagswahl 2017 sieht Börner entspannt entgegen. Doch ohne die anderen in Europa erziele niemand vergleichbaren Wohlstand, warnt Börner, der sich durch seine Rede als gestandener Europäer beweist.
Die Welt in Not
Das Jahr 2016 hat schon unangenehme Überraschungen bereit gehalten. Der erste Paukenschlag kam aus China. Um den Börsenabsturz aus dem Jahr 2015 zu verhindern hat das Reich der Mitte einen Automatismus eingeführt, der in Abhängigkeit von Zeit und Kursbewegung den Handel aussetzt. Das sollte den Handel beruhigen – aber nicht dessen Herzschlag zum Stillstand bringen. Doch genau das passierte am ersten Handelstag des neuen Jahres. Gleich zweimal nach der Mittagspause rutschte der Kurs innerhalb von fünf und vier Minuten um fünf und dann um zwei Prozent ins Minus. Damit wurde die Maximallinie von sieben Prozent erreicht, nach dem der Handel ganz ausgesetzt wird. Um 13:34 Uhr Ortszeit hatten die chinesischen Börsianer Feierabend und die Welt „den ersten Crash 2016“. China bleibt für die Weltwirtschaft bedeutend. China ist ein „riesiger Risikofaktor für die Stabilität der Weltwirtschaft“, sagte Börner. Offen ist, ob das Börsengeschehen ein Ausrutscher bleibt oder die Börse antizipiert, was im Sommer 2016 Europa erreichen wird. Eine harte Landung Chinas bedeute Weltrezession. „Ich sehe das mit großer Sorge“, erklärte Börner.
Noch zu Weihnachten freuten sich deutsche Unternehmer auf ein Ende der Sanktionen gegen den Iran. Der traditionelle Handel mit Teheran könnte im Frühjahr 2016 fortgesetzt werden. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer rechnete bereits mit einem Exportplus von 2,5 auf fünf Milliarden Euro innerhalb der nächsten drei Jahre und mit einer weiteren Verdoppelung bis 2026. Die Hinrichtungen in Saudi-Arabien haben den Planungen einen gefährlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Börner hält eine Eskalation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien für die größte Gefahr 2016. Die Unternehmen hätten sich in der Vergangenheit schon einmal an Erdölpreise über 100 US-Dollar je Barrel gewöhnen können, aber es drohe mehr. Ein noch stärker steigender Erdölpreis werde die Welt erschüttern und an Deutschland nicht vorbeigehen.
Merkel, Gabriel, dann keiner mehr
Börner hatte die Bundeskanzlerin für ihre Vernunft und Verantwortung in der Wirtschaftspolitik gelobt. Bevor Herd-und-Hof.de die Frage nach weiteren Persönlichkeiten weltweit auf Augenhöhe mit ihr zu Ende stellen konnte, fügte Börner noch schnell Sigmar Gabriel hinzu. Und dann? „Das ist ja das Drama.“ Pause. „Da schweigt der Chronist!“
Dafür rückt auf einmal TTIP in ein neues Licht. Wirtschaft brauche Freiheit, erklärte Börner. Selbst TTIP bietet dem deutschen Export angesichts der sprießenden Krisenherde auf dem Erdball eine noch lohnendere Perspektive.
Ja, dann gäbe es wenigstens einen halbplanetaren Binnenmarkt.
Lesestoff:
[1] Längere Grenzkontrollen durch Antiterrorismusmaßnahmen?
Roland Krieg