„Zweiter Frühling des Verbraucherschutz“
Handel
Billen: Lebensmittel sicherer als Finanzdienstleistungen
In Potsdam wurde am Montag zum Weltverbrauchertag auch das 20-jährige Jubiläum der Brandenburger Verbraucherzentrale gefeiert. Verbraucherschutzministerin Anita Tack erinnert an die Anfänge. Die ersten Themen waren Kaffeefahrten, Drückerkolonnen und das Thema Mieterschutz. Heute stehen komplexe Fragestellungen wie die klimafreundliche Ernährung auf dem Programm. Neben dem inneren Wachstum der Verbraucherhilfe blickt Brandenburg mittlerweile auf vier Jahre gemeinsamen Verbraucherschutz mit Polen zurück. „Verbraucherschutz ist keine Erfindung der Neuzeit“, so Tack, er erlebe einen zweiten Frühling.
Als Vorsitzende der Verbraucherschutzkonferenz will sie sich auf Bundesebene besonders für Regulierungen der Finanzmärkte stark machen. Der Verbraucherzentrale Brandenburg sprach sie weiterhin Unterstützung zu. „Trotz Krise und schwieriger Haushaltslage“.
Verbraucherschutz wird komplexer
Nach Ansicht von Gerd Billen, Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband, ist der Verbraucherschutz komplexer geworden. Viele Bereiche, wie die Altersvorsorge, gehen in den Wettbewerb über und der globale Handel bringt Güter auf den Markt, die unter anderen Voraussetzungen produziert werden. „Jeden Tag gebe es ein neues Verbraucherproblem“, was die Menschen aber nicht mehr verarbeiten können. Es sei an der Zeit Probleme zu priorisieren und Märkte in sichere und weniger sichere einzuteilen.
Für das Jahr 2010 und darüber hinaus sieht Billen fünf Themen auf der Agenda. Das Thema Lebensmittelsicherheit und -qualität ist für Billen jedoch bereits gut bearbeitet. Probleme entstünden meist nur noch aus der Sättigung des Marktes, wenn die Industrie versucht, abgewandelte Produkte neu auf den Markt zu bringen. Da enthalte nicht mehr jeder Erdbeerjoghurt reale Früchte. Für den Finanzmarkt wünscht sich Billen vergleichbare Kontrollen. Niemand ginge in eine Bank und prüfe die Seriosität von Handleszertifikaten oder nehme faule Aktien vom Markt. Ebenso undurchsichtig für Verbraucher sei die Gesundheitspolitik. Patienten können nicht prüfen, ob der Arzt oder das Krankenhaus gut oder schlecht sei. Weitere Themen bleiben Klima und Energie sowie der digitale Datenschutz. Daten dürften nur nach einer expliziten Einverständniserklärung weitergegeben werden, forderte Billen.
In Potsdam schlug er auch ein neues Finanzierungskonzept vor. Die Branchen, über deren Inhalte die Verbraucherzentralen am meisten aufklären müssten, sollten einen Teil der Beratungskosten nach dem Urheberprinzip übernehmen. Das sei notwendig, denn die Bundesländer finanzieren jedem Bürger umgerechnet nur 0,39 Euro im Jahr. „Dafür bekomme ich noch nicht einmal eine Kugel Eis“, so Billen.
Kommunen haben Beratung übernommen
Die Kommunen haben in den letzten Jahren viele Beratungsthemen übernommen, sagt Karl-Heinz Schröter, Landrat des Landkreis Oberhavel. Beim Umweltinformationsgesetz, Verbraucheinformationsgesetz und dem Brandenburger Alteneinsichtgesetz, wurden Beratung und Durchführung auf die Kommunen übertragen. Schröter forderte vor allem angesichts des demografischen Wandels noch mehr Aufgaben. Gerade was die Daseinsvorsorge betreffe, wie Gesundheit oder Nahverkehr, könne die Kommune die Leistung besser als Private erbringen.
Verbraucher überfordert
Prof. Ingo Balderjahn, Marketingexperte von der Universität Potsdam zeigte auf, was der mündige Verbraucher überhaupt sei. Verbraucherschützer und Industrie können weder vom „homo oeconomicus“ des Ordoliberalismus ausgehen, vom Verbraucher, der den Markt vollständig beherrscht, noch von der vollständigen Marktmachtasymmetrie, bei der die Kunden dem Geschehen ohnmächtig ausgeliefert seine. Ein realistisches Verbraucherbild sei der mündige Verbraucher, der seine Pflichten zu eigen- und sozialverträglichem Konsum kenne und vor allem in den Bereichen Gesundheit und Wirtschaft durch Regularien geschützt wird.
Konsumenten haben nur eine eingeschränkte Rationalität, so Prof. Balderjahn. Preispräsentation, Kontrollillusion und Zeitpräferenzen verzerren das Verhalten. „Schnäppchen“, „Superangebote“ und „Rabatte“ erreichen ihr Marketingziel und Kunden glaubten die Aussagen ohne den Inhalt zu überprüfen. Kunden glaubten auch, sie hätten ihren Konsum und die Produktauswahl im Griff – was aber eine Täuschung sei: „Der homo oeconomicus würde nie Lotterie spielen“, so der Marketingexperte. Und zuletzt zieht der Kunde den Gegenwartskonsum dem späteren Konsum, für den er erst sparen muss, vor.
Kunden orientieren sich in einer Art Vertrauensübertragung in der modernen Warenwelt. Sie lassen „vorprüfen“. Sie schauen vor dem Kauf bei der Stiftung Warentest nach, sind Markentreu, orientieren sich an Labels und hören auf Freundesrat. Nur beim Preis macht Prof. Balderjahn eine Täuschung aus: Kunden glauben, dass ein hoher Preis eine bessere Qualität beinhalte.
Außerdem stoße die Verbraucherberatung auf Grenzen. Kunden kaufen reizorientiert und emotional. Wer sich eine Uhr für 3.000 Euro gekauft, der will nicht vordergründig die Zeit erfahren, so Balderjahn.
Roland Krieg