Bekenntnis zum ganzen ländlichen Raum
Landwirtschaft
Neuer Schwung für den ländlichen Raum
Die Buslinie 100 der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG)
steht in jedem guten Reiseführer. Mit einer einfachen Fahrkarte können
Touristen zwischen dem Zoologischen Garten und dem Alexanderplatz, durch die
City West, den Tiergarten fahren und passieren auch den Reichstag. Bis zum 26.
November ist ein Bus dieser Linie auch äußerlich attraktiv gestaltet. Und zwar
vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Dessen Minister
Christian Schmidt stellte am Mittwoch den frisch angemalten Bus der Presse vor,
bevor er am Nachmittag mit den Eckpunkten seines Programmes für den ländlichen
Raum den Kongress „Leben und Arbeiten in ländlichen Regionen“ eröffnete. „Ich
will Lust aufs Land machen“, sagte Schmidt und möchte den ländlichen Raum nicht
zur „Schlafstätte“ für gestresste Städter degradieren lassen. Die Motive der
bundesweit geklebten Plakate zeigen Windräder in Berlin, Rinder vor dem Kölner
Dom oder Strohballen im Hamburger Hafen. „Ohne Land wär´s ganz schön eng“ heißt
die Kampagne, die vor allem Städtern den Wert des Landes und seine Leistungen
bewusster machen will.
Nicht nur Sehnsuchtsort
Stau im Berufsverkehr, Hochhäuser, Lärm und Bevölkerungsverdichtung laden Städter geradezu ein, vom Land zu träumen. Hügel, Bergseen, Stoppelfelder und Wegkreuzungen mit alten Bäumen machen das Land zum Sehnsuchtsort. Er verspricht Ruhe vor der Globalisierung. Die grüne Idylle funktioniert aber nur, wenn der ländliche Raum auch lebt. Und er lebt, wenn die Menschen dort leben und arbeiten. Weil sie dort neben der Arbeit auch eine Grundversorgung mit Waren des täglichen Bedarfes finden, Arztpraxen und ein Internet, dass sie und ihre Geschäfte mit der Welt verbindet. Sonst wird der Ort zur grünen Hölle, aus der die Menschen wieder fliehen. „Vergreisung“ und „verlorene Räume“ sind bereits Titel mancher Region.

„Gleichwertigkeit“ des ländlichen Raumes
Das ist nicht neu. Seit Schmidts Parteifreund Horst Seehofer im Landwirtschaftsministerium mit einer Tagungsreihe den ländlichen Raum auf die politische Agenda gesetzt hat [1], sind unzählige Pilot- und etablierte Projekte entstanden. Doch tauchte in der Zwischenzeit die Diskussion auf, wie flächendeckend eine flächendeckende Hilfe für den ländlichen Raum wirklich sein muss? Die Gleichstellung von Stadt und Land ist schon längst nicht mehr Ziel. Doch während Bevölkerungswissenschaftler auch schon vor der Gleichwertigkeit der ländlichen Räume Abstand nehmen [2], stellte Schmidt am Mittwoch fest: „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist das Ziel!“ Von diesem politischen Ziel dürfe keine Abstriche gemacht werden: „Es darf keine verlorenen Räume geben. Es darf keine planmäßige Aufgabe von Räumen geben.“
Die GAK weiter entwickeln
Für den letzten Winkel braucht es Geld. Schon lange ist
im Gespräch, die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und
des Küstenschutzes (GAK) zu einer Gemeinschaftsaufgabe für die ländliche Entwicklung
fortzuschreiben. Zunächst einmal stellte Schmidt die Rechnung auf: Die 600
Millionen Euro für die GAK werden mit 400 Millionen Euro der Länder zu einer
Milliarde für den ländlichen Raum erhöht. Der Artikel 91a des Grundgesetzes muss
geändert werden, damit die neue Finanzierungsgemeinschaft zwischen Bund und
Länder Wirklichkeit werden kann. Die Beschlüsse der jüngsten
Umweltministerkonferenz haben inhaltlich schon Vorarbeit geleistet und schieben
den Hochwasserschutz bereits in den neuen Aufgabenbereich. Schmidt will weiter einen
Sachverständigenrat für den ländlichen Raum einberufen und die Bundesanstalt
für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) soll ein Kompetenzzentrum für das Land erhalten.
Die Geschäftsstelle wurde bereits eingerichtet.
Als neue Gemeinschaftsaufgaben werden die Daseinsvorsorge, wie die ärztliche Versorgung, Waren für den täglichen Gebrauch, neue Einkommensquellen für kleine und mittlere Unternehmen sowie Infrastrukturmaßnahmen definiert.
Bewährte Förderinstrumente
Es wird zwar frisches Geld, aber keine neuen Förderinstrumente geben, die neue Türen öffnen sollen. Der Europäische Regionalfond, der Sozialfond und der Entwicklungsfonds bleiben die Quellen europäischer Kofinanzierung. Eine Aufwertung im ländlichen Raum soll die Wirtschaft außerhalb der Landwirtschaft erhalten. Mit zunehmender Digitalisierung der Wirtschaft und Arbeit müsse endlich auch der ländliche Raum mit mindestens 50 Mbit-Leitungen ausgestattet werden, forderte Schmidt [3]. Durch die neuen Aufgaben werden andere Ressorts der Bundesregierung mit einbezogen werden müssen.
Bürgerliches Engagement
Den Pilot- und etablierten Projekten ist eines gemeinsam: Das bürgerliche Engagement vor Ort. Ohne die Menschen, die ihre Zeit und Kreativität investieren, gibt es keine mobile Zahnarztpraxis in der Brandenburger Uckermark oder keinen Markt Treff in Schleswig-Holstein [4].
Dass die Menschen das Land verlassen sei nicht schlimm und sogar gut, sagte Matthias Daun von der Deutschen Landjugend. Sie schauen sich um und lernen Neues. Schlimm sei allerdings, dass sie nicht mehr wieder kommen. Es fehlen ihnen vor allem berufliche Perspektiven für ihre neuen Ausbildungen. Junge Frauen, die Beruf und Familie verbinden möchten finden keine Kinderbetreuung mehr, assistierte Steffi Trittel vom Landfrauenverband Sachsen-Anhalt.
Die Landwirtschaft steht für Daun derzeit noch im Mittelpunkt der ländlichen Entwicklung. Christine Berger hat im brandenburgichen Petzow ihren Sanddornbetrieb von 25 auf 150 Hektar, von einem bis zu 20 Mitarbeiter und von einer Tonne bis zu 800 Tonnen Sanddornverarbeitung ausgedehnt [5]. Der Fokus kann sich aber auch wandeln. Dr. Jörn Klimant, Landrat des Kreises Dithmarschen in Schleswig-Holstein, setzt auch auf die Bereiche außerhalb der Landwirtschaft. Schon im Kindergarten besucht die neue Generation die Häfen an der Nordseeküste. Die Unternehmen werben bei den Schülern für Praktika. So lernen die Jugendlichen ihre Berufschancen kennen und die Gründe der Mitarbeiter, warum sie auf dem Land bleiben.
Die Rahmenbedingungen
Der Kongress ist als Auftaktveranstaltung gedacht. Christian Schmidt will im nächsten Jahr Regionen besuchen und Erfahrungen sammeln, wie die Herausforderungen gemeistert werden. Wichtig werden dabei die Rahmenbedingungen sein, die das bürgerliche Engagement vor Ort entfachen oder einschlummern lassen können. Eine Ausdehnung des landwirtschaftlichen Betriebes wie in Petzow ist derzeit in Brandenburg nicht möglich. Existenzgründer kommen bei den hohen Bodenpreisen nicht mehr an Land heran [6]. Zwar verspricht Brandenburgs Landwirtschaftsminister Jörg Vogelsänger gegenüber Herd-und-Hof.de eine flächendeckende Landbewirtschaftung, doch über deren Ausgestaltung gibt es im Land unterschiedliche Ansichten [7]. Vogelsänger hat sich für die neue Legislaturperiode zur Aufgabe gesetzt, den Landfraß durch Braunkohle und Infrastruktur zu vermindern.
Die Bodenpolitik bleibt auch für den Deutschen Bauernverband (DBV) auf der Agenda. Udo Hemmerling, stellvertretender Generalsekretär, sagte am Rande der Tagung zu Herd-und-Hof.de, dass in einigen Ländern noch das Bewusstsein für die Bodenpolitik fehlt. Bislang war das noch nicht notwendig. Doch seit agrarfremde Investoren in den Markt drängen, komme Bewegung in das Thema. Auf seiner Präsidiumssitzung im Oktober hat der DBV ein Positionspapier zur Bodenpolitik verabschiedet [8]. Dass Änderungen beispielsweise über das Grundstücksverkehrsgesetz nicht so einfach zu gestalten sind, hatte der DBV erst im letzten Jahr auf seinem 5. Berliner Forum zu „Investoren in der Landwirtschaft“ festgestellt [9].
Rückblick auf Erfolge
Die Wahrheit der Politik für den ländlichen Raum liegt zwischen grüner Idylle und grüner Hölle. Brandenburgs Landwirtschaftsminister Vogelsänger warf noch einmal einen detaillierten Blick zurück auf die letzte Förderperiode. Erfolge dürfen nicht klein geredet werden, auch wenn die Herausforderungen groß bleiben. So hat Brandenburg mehr als 4.050 Vorhaben gefördert, von denen 1.720 auf die Landwirtschaft bezogen waren. Die Arbeit hat 161 Existenzgründungen, mehr als 800 direkte Arbeitsplätze und 437 Dienstleistungseinrichtungen zur Daseinsvorsorge, davon 95 für die Kinderbetreuung, geschaffen. 2.200 Gästebetten wurden für den Tourismus neu ausgelegt, sowie 1.800 Kilometer Radweg und 1.100 Kilometer Wanderweg gebaut. Mehr als 44.000 Haushalte zwischen Elbe und Oder haben einen Anschluss an die digitale Welt gefunden. Darunter sind 8.500 Breitbandanschlüsse für das Gewerbe.
Lesestoff:
Der nächste Großtermin zur Politik für den ländlichen Raum findet auf der Grünen Woche mit dem mittlerweile 8. Forum Ländliche Entwicklung statt: Programm und Anmeldung: https://www.zukunftsforum-laendliche-entwicklung.de/
[1] Tagungsreihe zum ländlichen Raum 2008
[2] Raumordnung im demografischen Wandel neu denken: „Vielfalt statt Gleichwertigkeit“
[3] In Europa ist Großbritannien beim schnellen Netz schneller als Deutschland
[4] MarktTreff: Dem Dorf die Seele wieder geben. Der aktuelle Stand liegt bei 34 MarktTreffs in Schleswig-Holstein.
[5] Sanddornsaison in Brandenburg eröffnet
[6] In Brandenburg fehlen Verarbeiter und Existenzgründer
[7] Für Hans-Georg von der Marwitz ist die Strukturfrage des ländlichen Raumes in Brandenburg noch nicht geklärt
[8] DBV zur Bodenpolitik: www.bauernverband.de/bodenmarkt2014
[9] Welche Regeln kontrollieren die Investoren in der Landwirtschaft?
Roland Krieg; Fotos: roRo