Brauchen wir Pflanzenschutz?

Landwirtschaft

Moderner Pflanzenschutz – allgemeine Verunsicherung?

> Im ErlebnisBauernhof traf sich eine durchaus illustre Runde von Experten, um über den Begriff des „Modernen Pflanzenschutz“ zu sprechen. Trotz verschiedener Interessen waren die Positionen gar nicht so weit von einander entfernt.
Carina Weber vom Pestizid Aktions-Netzwerk e.V. (PAN) wollte gar nicht ganz auf Pflanzenschutzmittel verzichten, obwohl die Verbraucher auf Meldungen von überschrittenen Grenzwerten immer schnell und emotional reagieren. Sie gab jedoch unmissverständlich zu verstehen, dass in Deutschland 20 – 30 Prozent der chemischen Mittel eingespart werden können. Es gäbe ein „riesiges Pestizideinsparpotenzial“ das noch nicht ausgeschöpft ist. Dieses Potenzial sieht sie im Vergleich zu Nachbarländern, die niedrigere Aufwände betreiben. Rund die Hälfte der Lebensmittel sei mit Rückständen belastet, wobei gerade in den letzten Jahren die Mehrfachbelastung durch verschiedene Mittel deutlich zugenommen hat. Vereinzelt weist ein Lebensmittel bis zu acht verschiedene Rückstände auf. Ein modernes Betriebsmanagement mit variantenreicheren Fruchtfolgen, einer guten Bodenbearbeitung und hoher Anbausorgfalt kann den notwendigen Aufwand an Pflanzenschutzmitteln (PSM) deutlich reduzieren, ohne dass der Betrieb ökonomische Einbußen erdulden muss.
Das die Mehrfachbelastungen zugenommen haben unterstreicht auch Dr. Roland Solecki vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Als weiteres Problem sieht er auch die uneinheitliche Regelung innerhalb Europas. So sind in Italien noch Mittel erlaubt, die in Deutschland bereits verboten sind. Auch wenn ein Mittel überall Verwendung finden darf, so können die erlaubten Höchstwerte in den Ländern unterschiedlich sein. So überschreitet ein Apfel, der in Italien bedenkenlos vermarktet werden kann, in Deutschland den Alarmwert des Grenzwertes und taucht in den Schlagzeilen auf. Daher sind neue Konzepte in der Entwicklung, um die Grenzwerte einheitlicher zu gestalten. Rund ein Viertel aller in Europa zugelassenen Wirkstoffe sind durch eine Neubewertung bereits von der Liste gestrichen worden. Besondere Probleme machen die Organophosphate und Pyrethroide in der Insektenbekämpfung. Grenzwerte sind Alarmwerte, deren Überschreitung nicht zwingend eine gesundheitliche Gefährdung auslöst. Aber es ist ein Strafbestand, so Dr. Solecki. Umgekehrt gibt es auch den Fall einer gartenbaulichen Substanz, die das BfR gerne verschwunden sähe, jedoch die negative Bewertung richterlich keinen Bestand gehabt hatte. Das BfR muss mit seinen Analysen auch diesen Punkt berücksichtigen.
Insgesamt hat sich die Toxizität der eingesetzten Wirkstoffe in den letzten Jahren verringert, sagt Dr. Oskar Böttcher, Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands Agrar (IVA). An Entwicklung und Zulassung arbeite die Industrie 8 – 10 Jahre, bevor das PSM in die Praxis geht. PSM sind eine Problemlösung für den Landwirt, die ihn in der guten fachlichen Praxis unterstützen. Die Geschichte der PSM weist hingegen seit der Antike mit Arsen, Schwermetallen und Nikotin weitaus gefährlichere Mittel auf, als die der Neuzeit. Als schwierig sieht er den so genannten „grauen Markt“ für PSM, bei dem Mittel günstiger in Nachbarländern gekauft werden, die zudem in Deutschland keine Zulassung haben. Das sind eindeutige Verstöße gegen das Pflanzenschutzrecht. Mit Heinrich Kemper saß auch ein Praktiker auf dem Podium. Er muss im Vertragsanbau für den Handel bestimmte Qualitäten in Größe und Zustand liefern. Das sei ohne den Einsatz von PSM gar nicht machbar. Er nutze die Schädlings- und Wetterprognosen für die Landwirtschaft, um Mittel gezielt einzusetzen. In den letzten Jahren setzt er zwar 20 – 25 Prozent mehr verschiedene Mittel ein, spritzt jedoch insgesamt 20 Prozent weniger auf die Felder. Dabei hat er beobachtet, dass er öfters über die Felder fahren muss, was er als effektiven Einsatz bewertet. Zur Kontrolle der Felder fährt er seine Schläge wöchentlich einmal mit dem Fahrrad ab und zählt Ungräser und Schädlinge, um eine Schadschwelle festzustellen. Der integrierte Pflanzenschutz empfiehlt den Einsatz von PSM erst ab einer bestimmten Schadschwelle, wie beispielsweise eine Grüne Pfirsichblattlaus auf zehn Rübenpflanzen oder 20 Windhalmkräuter auf einen qm Winterweizen. Unterhalb dieser Schadensschwelle werden die Konkurrenten geduldet, weil der Schaden kleiner ist, als der Aufwand für das Spritzen, der sich aus der Zeit, den Mittelkosten und dem Dieselkraftstoff ergibt. Erst oberhalb der Schadensschwelle reduziert der Spritzaufwand den ökonomischen Schaden.
Zwischen allen Stühlen sitzt der Importhandel. Als Vertreter des größten Fruchthandels Atlanta, Wolfgang Ahlers, muss er die Ware aus Übersee zu den heimischen Verbraucherwünschen nach Rückstandfreiheit verkaufen. Bezüglich der Grenzwertdiskussion spricht er von einer „gefühlten Gefahr“, aber in der Vergangenheit wurden viele Pestizide in die Entwicklungsländer exportiert, die dort noch weit verbreitet, jedoch hierzulande verboten sind. Im Gegensatz zu Großbritannien werde in Deutschland auf diese „Partisanenstoffe“, die in den Ernteprodukten wieder zu uns gelangen, gefahndet. Dazu hole sich Atlanta vor der Hauptlieferung eine Probe ins Labor. Es gibt jedoch auch innerhalb Europas ein Problem, dass beispielsweise in Spanien Mittel eingesetzt werden, die in Deutschland noch gänzlich unbekannt sind. Er vertritt die Ansicht, dass die Industrie verstärkt kontrollieren muss und die behördlichen Kontrollen eine Kontrolle der Kontrolleure bleiben soll. Die Ämter könnten eine intensive Beprobung nicht leisten.
Zukunftsweisend arbeitet der PAN an vergleichenden Studien, die offensichtlich noch fehlen. Es gibt die Beobachtung, dass in Abhängigkeit zu unterschiedlichen Bodenverhältnissen und Klimaregionen, verschiedene Betriebe unterschiedlich PSM nutzen. Das müsse, so Carina Weber, noch weiter analysiert werden, damit das Potenzial der PSM-Reduzierung weiter ausgeschöpft werden kann.

roRo

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