Braucht die Landwirtschaft ein neues Rollenverständnis?

Landwirtschaft

Die Landwirtschaft in der saturierten Gesellschaft

Seit die Menschen Afrika verlassen haben ist eine Menge Zeit vergangen. Indigene Völker wie in Papua-Neuguinea zeigen noch heute, dass Jäger und Sammler den ganzen Tag mit ihrer Nahrungsbeschaffung beschäftigt sind. Denen gegenüber greift der Firmenchef im Ledersessel in Berlin nur noch zum Telefon und bestellt sich eine Pizza. Von den 80 Millionen Bundesbürgern arbeiten nur 240.000 als Landwirt. Was ist passiert?

Vor Zehntausend Jahren haben Menschen in der neolithischen Revolution erstmals Ackerbau betrieben. Der hat sich im Prinzip bis heute nicht geändert. Saatgut wurde gesammelt, schon bald aus einem Korb heraus als Breitsaat ausgeworfen. Heute ruckeln pneumatische Einzelkornsägeräte GPS-gesteuert über die Äcker. Als die Menschen Getreide noch mit Steinsicheln geschnitten haben, konnten sie mangels Ährenfestigkeit keinen Roggen anbauen. Der galt als Unkraut. Erst der Schritt zur Metallsichel erlaubte auch die Roggennutzung. Heute düsen riesige Mähdrescher über die Felder.

Säen und Ernten

In der Technik hat sich sehr viel getan, doch das „Prinzip Säen und Ernten“ ist seit zehntausend Jahren das gleiche geblieben. Dazwischen ist das Wohl und Wehe des Getreidebaus noch immer von den Widrigkeiten des Wetters abhängig. Krankheiten, wie die Kartoffelfäule, haben noch Mitte des 19. Jahrhunderts große Hungersnöte ausgelöst. In Irland verhungerte eine Million Menschen, rund 1,5 Millionen wanderte vor allem in die USA aus. Die große Dürre 2018 hat zwar den Deutschen den Klimawandel ins Bewusstsein gedrückt, sie haben im Supermarkt davon aber nichts gespürt. Die Preise sind maximal unmerklich angestiegen, der internationale Handel hat mögliche Lücken in der Nahrungsversorgung ausgeglichen. Das „Prinzip Säen und Ernten“ gilt heute noch wie vor Zehntausend Jahren.

Handeln und Konsumieren

Lagerhaltung, Produktivitätsfortschritt und internationaler Handel haben langsam aber stetig für einen radikalen Wandel auf der Bauernseite gesorgt. Lange nach der Erfindung des Ackerbaus haben sich die Menschen noch selbst ernährt. Bauern und Versorgte waren identisch.

Wer kennt ihn nicht? Den phönizischen Handelskaufmann aus den Asterixheften, der Holz, Purpur und Textilien, Wein und Olivenöl in mächtige Schiffe lud und zum Fernhandel über das Mittelmeer bereiste. Schon rund 1000 Jahre v. Chr. haben sich in den phönizischen Stadtstaaten Menschen anderen Beschäftigungen gewidmet als der Selbstversorgung. Sie waren keine Bauern mehr. Die mittelalterliche Stadtbildung hat Menschen ebenfalls neue Einkommensmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft gegeben. Auf dem Land kannten sich die Menschen untereinander. Es zählte der Charakter. Ende des 19. Jahrhunderts wuchsen die Städte rasant und Menschen lernten die Vorzüge der Anonymität kennen. Durchsetzen konnte sich, wer laut ist. Johanna Spyri hat den Unterschied zwischen Stadt und Land in ihrem Roman „Heidi“ aus dem Jahr 1880 wunderbar aufgezeichnet. Das Waisenkind aus Frankfurt/Main wurde zu seinem Großvater auf die Alm in der Schweiz geschickt. Zu Beginn machte sie alles falsch und lernte das Leben auf dem Land und die Landwirtschaft erst über den Geissenpeter kennen. Ihre ersten Jahren zwischen den Frankfurtern Kaufmannshäusern hatte sie der Landwirtschaft bereits entfremdet. Der Vorwurf, Städter kennen die Landwirtschaft nicht, ist mindestens 140 Jahre alt.

Getrennte Entwicklung

Auch wenn sich Stadt und Land unabhängig voneinander entwickelt haben, so blieb die geringe Produktivität ein starkes Band zwischen den Menschen. 1900 hat ein Landwirt nur vier Personen ernährt. Eine gute oder schlechte Ernte hatte direkt Auswirkungen auf die in der Landwirtschaft „Unbeteiligten“.  38 Prozent der Deutschen arbeiteten zu dieser Zeit noch in der Land- und Forstwirtschaft. 50 Jahre später hat sich das trotz industrieller Revolutionen nicht wesentlich verändert. Jeder Vierte arbeitete im Stall, auf dem Acker oder im Forst. Landwirte ernährten kaum mehr als zehn Personen. Erst die technisch bedingte Produktivitätssteigerung ab den 1960er Jahren hat Land und Stadt vollends getrennt. In den letzten hundert Jahren stieg die durchschnittliche Erntemenge von Weizen von 18,5 auf 77,1 dt/ha. Ein Landwirt ernährt heute 135 Menschen.

Sehnsuchtsort Landwirtschaft

Die Stadtbewohner haben ein neues Leben entwickelt. Der Mensch ist mobiler geworden, Arbeit findet nicht nur im Büro, auch dank Smartphone auf dem Weg zur Arbeit und nach Haus statt. Home Office verzahnt Arbeit und Leben immer enger. Bei Rewe am Straßenbahnknoten Petersburger Straße / Danziger Straße in Berlin-Friedrichshain hat bis auf sonntags bis 23:30 Uhr auf. Ab 20:00 Uhr ist Englisch die vorherrschende Sprache in der Kassenschlange. Die Welt rückt zusammen, die Bewohner wollen stets alle Güter immer und sofort zur Verfügung haben. Edeka Nord arbeitet seinen Handzettel für die wöchentliche Werbung schon als digitale Erlebniswelt auf. Der Lebensmittelhandel wird bargeldlos, auf dem Smartphone senden so genannte Beacons im Geschäft dem Kunden aktuelle Angebote, während er seinen Einkaufswagen durch die Regalschluchten schiebt.

Der Mensch in der Stadt ist Tag und Nacht einer Reizüberflutung ausgesetzt, aus der Ruhekurse, „Digital Detoxing“ genannt, Fluchten versprechen. „Ein Leben nach dem Internet“, wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ es beschrieben hat. Die Suche nach Ruhe und Entspannung bietet fraglos die Natur. Das Rauschen der Wipfel, der Geruch von Heu oder das Plätschern von Wasser.

Nur: Dort lebt und arbeitet auch der Landwirt. Der ist unbemerkt ebenfalls digital unterwegs, mit mindestens genauso moderne Technik, die dem Stadtbewohner sein Leben erleichtert. Doch plötzlich stören die Bauern, weil sie in dem Raum arbeiten, den die Städter als Zufluchtsort brauchen. Der in der Stadt laut gewordene Mensch fordert extrovertiert die Bauern auf, sich seinen romantischen Landträumen anzupassen.

Es gibt kein Zurück

Die Industrieländer müssen sich ändern. Der ungezügelte Konsum ist eine Sackgasse, wenn alle Menschen so viel konsumieren wollen wie in den Industrieländern. Aber es gibt kein Referenzbild für das Ziel. Janusz Wojciechowski hat in seiner Bewerbungsrede als EU-Agrarkommissar in diesem Sommer von einem Zielbild für die Landwirtschaft gesprochen. Er konnte es aber nicht beschreiben. Soll es die Landwirtschaft von vor zehn Jahren sein? Das will er mit dem Europaparlament aushandeln.

Ein Zurück wird es aber nicht geben. Eine Umkehr der Städter in Bauern ist unmöglich. Junge Frauen, die von eigenen Betrieben träumen, vom Landleben – werden sie das wirklich 40 bis 50 Jahre durchziehen wollen? Als Bäuerin und Mutter, mit Viehhaltung die Wochenende opfern und am Ende die Aussicht auf eine karge Rente aus der staatlichen Sozialkasse?

2040 werden in Deutschland nur noch 120.000 Landwirte aktiv sein und das Verhältnis zwischen Versorgern und Versorgten verschlechtert sich. Und das weltweit, denn Schwellenländer wie Brasilien und auch Indien zeigen, dass sich die europäische Entwicklung zwischen Stadt und Land wiederholt.

Urban Gardening

Vertikale Landwirtschaft, Urban Gardening, Aquaponik in geschlossenen Kreisläufen, mit Gemüse und Fisch in Containern gemeinsam produziert: Das sind nicht nur neue Trends, die in flächenknappen Ländern wie Japan eine Lösung für die Zukunft bieten, sondern in Industrieländern den Menschen außerhalb der Landwirtschaft eine Teilhabe auf Ebene der Versorgung bietet. Dieser Ansatz, sich seine Nahrungsmittelproduktion selbst zu gestalten, ist eine Flucht aus der alltäglichen Reizüberflutung. Weltweit wird der Umsatz dieser Formen neuer Landwirtschaft auf acht Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 geschätzt. Das ist mehr als ein Spielzeug.

Auf der anderen Seite muss die Landwirtschaft diese Trends extrovertierter Städter aushalten. Sie kann niemals gegen diese Vorstellungen Nahrung produzieren. Wenn eine Tierrechtsorganisation im Namen männlicher Ferkel gegen die betäubungslose Kastration Klage einreicht, ist das höchst absurd, aber Teil der neuen Stadtkultur. Solche Wünsche fallen in einer gesättigten Gesellschaft an, weil die tägliche Not der Auswanderer aus Afrika nicht mehr gegenwärtig ist. Anstatt den ganzen Tag Beeren sammeln, eine Antilope jagen oder ein Getreidefeld mit der Hacke von Unkraut zu befreien, ist ein ganzer Wocheneinkauf in einer Stunde erledigt. Was vergessen wurde, wird nachbestellt. Rund um die Uhr. Abgebucht wird automatisch.

Welche Rolle bleibt übrig?

So wie sich die Landwirtschaft vom Euphrat bis in die Moderne hinein entwickelt hat, so flexibel muss sie auch in Zukunft bleiben. Sie bewegt sich weiterhin unter widrigen Wetterbedingungen zwischen Saat und Ernte, aber das Bewusstsein, die Bauern ernähren die Menschen steht auf wackeligen Beinen. Fleisch aus dem Labor, Urban Gardening, Insektenburger  und manch andere synthetische Nahrungsquellen, die noch kommen werden, finden ihren Weg. Ersetzen können sie die Landwirte vielleicht erst in fernster Zukunft. Wer hat auf dem Raumschiff Orion oder dem Raumschiff Enterprise Landwirte gesehen?

Landwirte müssen ihr Berufsbild erweitern. Neue Funktionen wie die Erzeugung nachwachsender Kohlenstoffketten für die Chemie, Dienstleistungen für den Umwelt- und Klimaschutz werden schon Morgen mindestens genauso wichtig werden, wie die Nahrungsmittelproduktion. Sie sind aber, so komisch es klingt, den Städtern sichtbarer als die Nahrungsmittelproduktion.

Bleibt nur noch eine Frage? Muss man das den Städtern noch erklären oder hinkt hier nicht doch die Agrarpolitik in alten Bildern hinterher?

Roland Krieg

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