Das Schmallenberg-Virus aus Sicht der Veterinäre

Landwirtschaft

Orthobunyavirus: Wann gibt es den Impfstoff?

Dr. Stefan Völl von der Vereinigung Deutscher Landesschafzuchtverbände beschrieb am Donnerstagabend die Auswirkungen des Orthobunyavirus auf die Schafbestände. Rund 30 Prozent Lämmerverluste und durch die Lämmer-Missbildungen verursachten Todesfälle der Mutterschafe von fünf bis zehn Prozent haben den Schafhaltern im letzten Winter erhebliche Schäden verursacht. Mit Blick zurück auf die Blauzungenkrankheit forderte Völl die schnelle Entwicklung eines Impfstoffes, der vor drei Jahren diese Krankheit auch im Sinne des Tierschutzes schnell bekämpft hat. Maßnahmen wie Schutznetze, um den Tierbestand vor den kleinen Gnitzen zu schützen, haben in der Wanderschafhaltung keinen Erfolg. Auch müssten die Veterinäre eine schnelle Nachweismethode entwickeln, damit die Schäfer wissen, dass das Virus nicht auf den Fetus übergehen kann.
Ähnlich äußerte sich Bernd Adler von der RBB Rinderproduktion Berlin-Brandenburg. Bei Rindern sind die Schäden jedoch größer. Das Orthobunyavirus habe bereits bei Russland, Kasachstan und in Nord-Afrika außer Marokko bereits zu einem Importstopp von Lebendrindern geführt, und wurde mittlerweile auf Rindersperma für die USA, Mexiko, China und bald wohl auch Japan ausgeweitet. Gerade die Halter von Zuchttieren erleiden regelmäßige Einbußen, kaum dass sie sich von der letzten Krankheitswelle im Rinderbestand erholt haben. Nach BSE kam die Blauzungenkrankheit, jetzt das Orthobunyavirus. Adler forderte auch einen bezahlbaren Schnelltest, der weniger als 25 bis 30 Euro je Tier koste.

Epidemiologie, Pathomorphologie und Gnitzenbekämpfung

Kurzfristig haben die Berliner Veterinärmediziner an der Freien Universität eine Tagung einberufen, um sich und die Öffentlichkeit über den aktuellen Sachstand über das so genannte Schmallenbergvirus zu informieren. Aus verschiedenen Fachbereichen wurden Informationen zusammen getragen, die zeigten, dass die Wünsche des Berufsstandes weiter als der Sachstand gehen.
Aktuell sind knapp 900 Betriebe in Deutschland betroffene, die sich ähnlich konzentrieren wie beim Ausbruch der Blauzungenkrankheit. Im Grenzgebiet von Deutschland und den Niederlanden bei Kleve wurde im August 2011 beim Milchvieh erstmals ein Krankheitsbild „schlapper Kühe“ beschrieben, erläuterte Dr. Franz Conraths vom Friedrich-Loeffler-Institut (FLI). Die Holländer hatten bereits über Rinder mit einem Milchrückgang von bis zu 20 Prozent und wässrigem Durchfall berichtet, was sie auf eine Winterdiarrhoe zurückführten. Das Krankheitsbild verläuft bei den Mutterkühen milde und erinnerte zunächst an die Blauzungenkrankheit, bis das FLI das Virus entziffern konnte und nach dem Probenort Schmallenberg benannte.
Die Muttertiere zeigen kurzzeitige hohe Fieberschübe von bis zu 41 Grad Celsius, wässrigen Durchfall und temporär absinkende Milchleistung. Nach sieben bis elf Tagen sind die Symptome weg und die Tiere erlangen wieder ihre vorige Milchleistung.
Erst als die ersten missgebildeten Kälber zur Welt kamen, zeigte sich, dass die Krankheit etwas Neues war. Die Epidemiologen haben zurückgerechnet und festgestellt, dass die Konzeption des ersten infizierten Rindes auf den Januar 2011 zurückgeht. Das älteste infizierte Schaf geht auf den Dezember 2011 und die älteste infizierte Ziege auf den Januar 2012 zurück.
Unerklärlicherweise sind weite Teile Bayerns und in Mecklenburg-Vorpommern frei von Infektionen. Die Spitzen der Erkrankungen lagen bei den Schafen zwischen der 52. Kalenderwoche 2011 und der neunten des Jahres 2012. Bei den Ziegen waren es die Wochen sechs bis acht und bei Rindern steigen die Erkrankungen ab der 7. Kalenderwoche an. Bei den kleinen Wiederkäuern ist der Gipfel der Erkrankungen vorbei, erläuterte Dr. Conraths. Der Virus hat schwere Erkrankungen bei Lämmern und Kälber zu Folge und in seinem Auftreten spiegelt sich das saisonale Ablammen und Kalben wider. Was bei den Rindern in den nächsten Wochen noch alles passiert, könne niemand vorhersagen.
Europaweit konzentrieren sich die Erkrankungen auf die Benelux-Länder, Deutschland, Nord-Frankreich und dem Südosten Englands. EU-weit sind 1.800 Fälle beschrieben.

Eigene Basensequenz

Dr. Bernd Hofmann vom FLI, der das Virus sequenziert und „entdeckt“ hat, beschrieb seine Vorgehensweise. Je mehr Basenpaare des Virus aufgedeckt wurden, desto mehr wurde sichtbar, dass es mit dem Akabane-Virus verwandt ist. Aber zu jedem bekannten Verwandten der Simbu-Serogruppe zeigten sich kleine Unterschiede, so dass Dr. Hoffmann sicher gewesen ist, ein neues Virus vor sich zu haben. Am 19. November 2011 wurden die Sequenzen den Kollegen in Belgien und den Niederlanden mitgeteilt, die mit eigenen Untersuchungen die Befunde stützen konnten.
Es gibt ein paar Ungereimtheiten beim neuen Krankheitserreger. So sind Antikörper bei einzelnen Tieren nur im Gehirn, dem Blut, dem Fruchtwasser oder dem Mekonium, dem ersten Stuhl des Neugeborenen, nachweisbar. Eine einfache Suche gibt es also nicht, so Dr. Hoffmann.
Bei den Muttertieren ist die Virämie, also das Vorhandensein von Viren im Blut, ziemlich genau nach sechs Tagen vorbei. Wird ein Veterinär zu einem Landwirt gerufen, sollte er keine Zeit vergeuden, sonst ist ein Nachweis nicht mehr möglich.
Die Zeit hat auch schon ausgereicht, Infektionstests zu machen. Dabei wurde festgestellt, dass das Virus weder oral noch über nebenstehende Tiere übertragen werden kann.

Das Virus sichtbar gemacht

Ebenfalls am Donnerstag hat das FLI mitgeteilt, dass das Virus erstmals mit Hilfe der Elektronenmikroskopie sichtbar gemacht werden konnte. Das Virus ist mit einer Membran umhüllt und hat einen Durchmesser von etwa 100 Nanometern. Das ist ein Millionstel Millimeter. Die Erbinformation des Virus ist in drei unterschiedlich großen Segmenten abgespeichert.




Das Schmallenberg-Virus (Mitte) mit einem Durchmesser von 100 Nanometern in einer 150.000-fachen Vergrößerung.
Foto: Dr. habil. H. Granzow / Friedrich-Loeffler-Institut




Was macht das Orthobunyavirus?

Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben früh zusammengearbeitet. Aufmerksam geworden sind die Veterinäre nicht durch die in den Medien herausgestellten Missbildungen der Kälber, sondern eben schon durch die „schlappen Kühe“, erläuterte Dr. Peter Heimberg vom Tiergesundheitsdienst der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen. Sie haben bei den Schafen auch festgestellt, dass die Lämmer zwischen dem 28. und 56. Trächtigkeitstag infiziert werden. Vorher wird die Frucht wahrscheinlich resorbiert, danach bleiben die Lämmer gesund. Erstaunlich ist auch, dass oftmals bei Zwillingsgeburten eines der Lämmer gesund zur Welt kommt.
Intensive Studien haben Prof. Dr. Achim Gruber vom FU-Institut für Tierpathomorphologie zu Analogieschlüssen geführt, wie das Virus beim Fötus wirkt. Die Missbildungen weisen sowohl im Knochenbereich als auch im zentralen Nervensystem eine äußerst hohe Variabilität auf. Keine Missbildung sei wie die andere, so Prof. Gruber. Die Symptome setzen sich aus Athrogrypose, Knochenverformungen, und Hydranencephalie, Missbildungen im Gehirn zusammen. Es zeigen sich Hypoplasien in der Muskulatur.
Das sind Ähnlichkeiten wie beim Akabane-Virus, dass 1959 nach dem Nachweisort Akabane in Japan benannt wurde. Das Virus infiziert und zerstört im Embryonalstadium Neuroblasten. Welche, wissen die Virologen nicht, aber sie scheinen eine hoch empfindliche Zellpopulation zu treffen, die für die Weiterentwicklung des Fötus von entscheidender Bedeutung sind. Je nachdem wann sie die Neuroblasten zerstören, entwickeln sich in einer Art Kettenreaktion unterschiedliche Krankheitsbilder. Zu Beginn sind es die Hypoplasien des Gehirns, später trifft es die Entwicklung der Muskulatur. Es habe sich gezeigt, dass Föten mit unterentwickelter Muskulatur sich im Mutterleib zu wenig bewegen und damit negative Auswirkungen auf das Skelett und die Gelenke hervorrufen. Das können Verkrümmungen des Laufapparates sein, Verdrehungen der Wirbelsäule oder Gelenkversteifungen bei überlebenden Kälbern.
Die Athrogrypose ist nicht dem Orthobunyavirus vorbehalten. So treten mit dem Morbis-Syndrom oder Pierre-Robin-Syndrom auch beim Menschen ähnliche Erkrankungen auf. Auch Anagrypin und Piperidin, Toxine der Lupine, oder Phomopsin, ein Stoff eines Waldpilzes sowie Nikotin können ähnliche Erkrankungen hervorrufen. Bei den Rinderrassen weißlauer Belgier und beim Fleckvieh sind solche Defekte auch genetisch bedingt.

Impfen oder nicht?

Derzeit stellt sich diese Frage nicht, weil es keinen Impfstoff gegen das Orthobunyavirus gibt. Prof. Dr. Nikolaus Osterrieder von der FU Berlin gab jedoch die Auswahlmöglichkeiten an, wie ein Impfstoff aufgebaut sein könnte. Es könnte ein Lebens- oder ein Totvakzin sein, ein Subunitvakzin, das nur aus Bestandteilen des Virus besteht oder ein Vektorvakzin aus Pocken-, Pest- oder Herpesviren.
Die Auswahl richtet sich nach den Wünschen. Der Impfstoff im Fall des Schmallenbergvirus müsste schnell verfügbar sein, wirksam, unschädlich, auch für trächtige Tiere einsetzbar und muss DIVA-tauglich sein. DIVA steht für „Differentiation of infected and vaccinated animals“. Sowohl geimpfte als auch infizierte Tiere bilden Antikörper, weswegen dann nicht mehr unterschieden werden kann, ob die Tiere nur geimpft oder tatsächlich auch infiziert und daher ansteckend sind. Mit Hilfe von Markern kann diese Unterscheidung sichtbar gemacht werden.
Nach Prof. Osterrieder erfüllen Subunit- und Vektorvakzine alle Wünsche nach einem Impfstoff. Seit einigen Jahren haben die Virologen gute Erfahrungen mit rekombinierten Impfstoffen auf Basis des Equine Herpesvirus-1 gemacht, dem wechselnde Partner zur Seite gestellt werden. Die sind beispielsweise erfolgreich gegen das Rift Valley Fieber im Einsatz, haben jedoch den Nachteil, dass die gentechnisch verändert sind. Daher habe so ein Impfstoff in Deutschland kaum Akzeptanz und Osterrieder baut zunächst auf politische Unterstützung.
Bis ein Impfstoff gegen das Orthobunyavirus einsatzfähig sein kann, werden mindestens eineinhalb Jahre vergehen. Steht also frühestens vor der Gnitzensaison 2013 zur Verfügung. Bei der Blauzungenkrankheit habe eine konzertierte Aktion der EU-Mitgliedsländer den Prozess beschleunigt. Das sei hier nicht zu erwarten.

Schematische Darstellung und elektronenmikroskopische Aufnahme des Schmallenberg-Virus. Zu sehen ist ein von einer Membran umhülltes Viruspartikel, das die drei Segmente der Erbinformation enthält.
Foto: Elektronenmikroskopie Dr. habil. H. Granzow, Grafikdesign M. Jörn / Friedrich-Loeffler-Institut

Schutz vor Gnitzen

Übertragen wird das Orthobunyavirus über Gnitzen. Die drei Millimeter kleinen Mücken waren auch auch schon beim Blauzungenvirus aktiv. Etwa 125 Arten sind bekannt, einige saugen Blut wie die Culicoides obsoletus und C. pulicarcis, die in Mitteleuropa heimischen Stechmücken. Die Ausbreitung der tropischen C. imicola wurde bislang nicht bewiesen. In Gnitzen habe man bereits mehr als 50 Krankheitserreger nachgewiesen, die von ihnen übertragen werden können.
Wie sich das Virus aber wirklich ausbreitet, ist auch bei der Blauzungenkrankheit noch immer nicht bekannt. Werden die Virenbeladenen Tiere mit dem Wind oder mit Ware und Verpackung verbreitet oder gibt es einen transplazentaren Weg für das Virus? Im Wirt kann das Virus jedenfalls nicht überwintern. Es gibt keine bewiesene transovarielle Übertragung des Virus vom adulten Tier ins Ei. Dr. Peter-H. Clausen vom Institut für Tropenveterinärmedizin der FU Berlin vermutet, dass der Virus während des Winters in Gnitzen überlebt, die ihrerseits den Winter im warmen Stall verbringen.
In den Jahren 2008 und 2009 hat er mit Unterstützung des Landwirtschaftsministeriums und Brandenburger Rinderzüchtern Versuche mit Netzen durchgeführt, die mit Insektiziden getränkt waren und gute Erfolge erzielt. Da die Gnitzen nur einen flachen Flugraum durchfliegen reichen mannshohe Netzte, die um ganze Betriebe herum aufgespannt wurden, aus, um die Gnitzenpopulation im Betrieb nahezu auszurotten.
Ein denkbarer Weg sei auch die Ektoparasitenbehandlung. Es gebe wirksame Mittel gegen Weidefliegen, die allerdings bislang nicht auf Gnitzen ausgiebig getestet wurden. Hier sieht Dr. Clausen noch Forschungsbedarf.

Hilfe für die Bauern?

Wenig Aussicht auf Hilfe machte Dr. Rolf Krieger den Bauern. Der Referent für Tierseuchen aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium erläuterte, dass es nur Hilfen von der EU gibt, wenn die Krankheit in der Liste der internationalen Tierseuchen eingetragen oder im Anhang der EU-Verordnung für Ausgaben im Veterinärbereich 90/424/EWG aufgeführt ist. Da kann das neue Orthobunyavirus noch gar nicht drin stehen. Deutschland habe jedoch die Niederlande unterstützt, das nachzuholen. Die Kommission reagiere jedoch vorsichtig, denn ein Eintrag und eine Beihilfe würde die Drittländer, die derzeit wegen des Virus die Importe stoppten, noch mehr sensibilisieren, so Dr. Krieger. Derzeit sei der milde Krankheitsverlauf bei den Muttertieren auch nicht so schlimm wie bei der Blauzungenkrankheit, heiße es in der EU-Kommission.

Lesestoff:

Der tagesaktuelle epidemiologische Bericht wird nachmittags auf der Seite www.fli.bund.de veröffentlicht.

Russland macht wegen des Orthobunyavirus die Grenze dicht

Die Frage zur Blauzungenkrankheit: Impfen oder nicht?

Roland Krieg; Fotos. Dr. H. Granzow; Grafik M. Jörn (beide FLI)

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