Daseinsvorsorge bei 16 Einwohner je km2

Landwirtschaft

Daseinsvorsorge im peripheren ländlichen Raum

Gestern abend hat das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bei seinem agrarpolitischen Abend in Berlin nicht nur seine Visionen 2020 über die Entwicklung des Landes bundesweit vorgestellt, sondern auch die neueste Studie der Universität Rostock: „Daseinsvorsorge im ländlichen Raum“.

Was wollen die Bürger?
Dr. Claudia Neu von der Universität Rostock hatte bereits in Mecklenburg-Vorpommern mit der Studie „Das aktive und soziale Dorf“ Faktoren herausgearbeitet, die den Erfolg eines Dorfes für seine Entwicklung ausmachen können. Jetzt haben der demographische Wandel und die Finanzknappheit der Kommunen eine neue Studie generiert, bei der sich die Analyse der Infrastruktur an den Wünschen der Bürger messen lassen muss. Vieles sei bei der ländlichen Entwicklung zwar in Planung, aber es gebe wenig Gewissheit über die Wünsche der Betroffenen.
Zusammen mit 19 Studenten wurde die Großgemeinde Galenbeck im Nordosten Mecklenburg-Strelitz ausgesucht. Das Gebiet ist strukturschwach, agrarisch stark gefärbt und ohne nennenswerte Industrie. Mit 16 Einwohner je Quadratkilometer ist die Region einer der am wenigsten besiedelten in MV und zeigt bei einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent alle Anzeichen einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung. Peripherer geht es kaum.
Die Menschen zeigen eine hohe Zufriedenheit mit ihrer technischen Infrastruktur. Nur der Breitbandanschluss fehle noch. Auf der Habenseite stehen auch der Zustand er Straßen und die Naturgegebenheiten. Sehr unzufrieden sind die Bürger allerdings mit der Ausstattung des ÖPNV, sowie mit kulturellen und sozialen Infrastrukturen. Es fehlen Einkaufsmöglichkeiten.
So wollen die Galenbecker weitere Mittel für die Infrastruktur eher zur Erhaltung als zu deren Ausbau eingesetzt wissen. Ausgebaut werden solle die medizinische Versorgung, Kindertagesstätten und Schulen.

Helfen oder Selbsthilfe?
Das ehrenamtliche Engagement ruht in Galenbeck nur auf wenigen Schultern, doch ist die Mehrheit durchaus bereit weitere Aufgaben für die Gemeinschaft zu übernehmen: Das Pflegen von Plätzen, Seniorenbetreuung oder die Organisation von Festen. Allerdings sind das „wenig institutionelle Angelegenheiten“, grenzt Dr. Neu ein.
Für eine dauerhafte und nachhaltige Gemeinschaftsaufgabe müssten soziale Orte geschaffen werden. Das müsse kein eigenes Gemeindehaus sein, sagt die Wissenschaftlerin vom Institut für Soziologie und Demographie. Dazu reicht bereits ein Spielplatz oder ein Dorfladen aus. Sich Treffen und über den Alltag reden.
Die Menschen in Galenbeck registrieren den Rückzug des Wohlfahrtstaats, sind bereit in die Bresche zu springen, fragen allerdings auch, wieso sie Eigenleistungen erbringen sollen, für die sie Steuern und Abgaben entrichten müssen. Zu starke Reglementierungen wie Gesetze über die Personenbeförderung oder das Kinderbetreuungsgesetz können persönliches Engagement ersticken.
Sollen die Bürger zukünftig stärker verantwortlich sein, um letztlich auch auf dem Land zu bleiben, dann, so die Studie, müsse ihnen vermehrt rechtlicher und finanzieller Handlungsspielraum eingeräumt werden.

Visionen ohne Ressortegoismus
Die Gemeinden Lübstorf und Seehof wollten eine gemeinsame Kindertagesstätte errichten, damit junge Frauen mit ihren Familien in der Region bleiben können. Verschiedene Unternehmen haben geholfen, das Projekt auf die Beine zu stellen. Finanziert hätte es werden sollen vom Schweriner Sozialministerium, das allerdings keine Fördermittel mehr übrig hatte. Die fehlenden 200.000 Euro an der Gesamtfördersumme von 1,2 Millionen Euro stammt letztlich aus dem ELER-Fonds des Landwirtschaftsministeriums.
Wie Mecklenburg-Vorpommern jenseits von Legislaturperioden und Planungshorizonten der Verwaltungen aussehen soll, kennzeichnete Agrarminister Dr. Till Backhaus mit der aufgelegten Broschüre „Land hat Zukunft“.
Vier Megatrends kommen darin vor: Gesundheit, Bewegung, Ernährung; Lebendiges Lernen; Schutz natürlicher Ressourcen und Energie und Mobilität. Mit diesen Standbeinen gibt er die Richtung vor. Die Zukunft des Landes werde dadurch bestimmt, wie aus eigener Kraft, Arbeit und Einkommen gesichert werden können.
Getrieben werden die Visionen von der Unsicherheit, was nach der womöglich letzten EU-Förderperiode nach 2013 an Fördermitteln zur Verfügung steht. Außerdem läuft 2019 der Solidarpakt II aus.
Zum einen geht es um die Entwicklung eines „Neuen Gesellschaftsvertrags für Transferzahlungen“, zum andern um die jetzt niedergeschriebene Erkenntnis: „Insgesamt wird in den kommenden Jahren der Beitrag der Landwirtschaft an der Wertschöpfungsentwicklung und für die Beschäftigung in den ländlichen Regionen tendenziell abnehmen.“ Auch wenn Dr. Backhaus weiterhin die verarbeitende Industrie fördern will. Die Modellregion Cham hat beispielsweise ihren Erfolg primär anderen Wirtschaftszweigen zu verdanken.
So ist die Kita in Lübstorf genau das richtige Beispiel, wie es laufen solle. Herd-und-Hof.de wollte daher wissen, ob durch die Vielfalt der Ressorts nicht ein eigenes Ministerium für den ländlichen Raum notwendig wäre? Doch für Lübstorf hätten sich die verantwortlichen Stellen über „den Ressortegoismus“ hinweggesetzt, sagte Dr. Backhaus. Die Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik hätten erkannt, dass sie ihrem Ziel nur gemeinsam nahe kommen. So sollen Dorfgemeinschaftshäuser für Direktvermarktung auf dem Land und Arzthäuser sowie Handwerk entwickelt werden, Dann, so Backhaus, brauche man kein eigenes Ministerium.

Gleichwertige Lebensverhältnisse
Als Grundpfeiler für die Entwicklung des ländlichen Raums gilt bislang das Grundgesetz mit seiner Aussage über gleichwertige Lebensverhältnisse. Backhaus würde das gerne neu definieren. Bislang wurde das nur von der Angebotsseite aus betrachtet, sagte er. „Aber muss man wirklich alles überall haben?“ Unter gleichwertigen Bedingungen seien eher Chancengleichheiten zu verstehen, die in so genannten Ankergemeinden realisiert werden könnten.

Lesestoff:
Die Broschüre „Land hat Zukunft – Mecklenburg-Vorpommern 2020“ steht als Download auf der Seite des Ministeriums zur Verfügung: www.lu.mv-regierung.de.
Neu, Dr. Claudia; Abschlussbericht: Daseinsvorsorge im peripheren Raum – am Beispiel der Gemeinde Galenbeck“; Rostock 2007; www.soziologie.uni-rostock.de

Roland Krieg

Zurück