Die 5. Kränkung der Menschheit

Landwirtschaft

Die landwirtschaftliche Kränkung

Statt eines Jahresrückblickes folgt zum Jahresende ein tiefenpsychologischer Blick auf Landwirtschaft und Verbraucher.

Es hat ja nur drei Kränkungen gegeben, die Sigmund Freud in seiner anthropologischen Diagnose 1917 beschrieben hat. Der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg beschrieb 1986 in seinem Buch „Lebenszeit und Weltzeit“ eine vierte Kränkung. Seitdem überbieten sich digitale Internetfreaks und Hobbypsychologen mit zahlreichen weiteren Kränkungen und versuchen der Mathematik der Frustrationen ihren Stempel aufzudrücken. Doch die richtige Arithmetik des mit Traurigkeit verbundenen Ärgernisses, wie Johann Christoph Adelung den Begriff Kränkung 1796 beschrieb, führt nach Freud und Blumenberg ausschließlich zur fünften, der landwirtschaftlichen Kränkung. Schließlich geht es um die seelisch-psychische Integrität, die durch unerwartete Ereignisse in ihren Grundfesten erschüttert ist. Unerwartet ist das Ereignis allerdings nicht. Es ist schon da. Aber erst seine Entdeckung legt den Widerspruch zur Selbstbestimmung offen und führt zu seelischen Verwerfungen, die noch über mehrere Generationen anhalten.

Die kosmologische Kränkung

Lucy von den Peanuts hat es einmal auf den Punkt gebracht. Sie schaute nach rechts, nach links, nach vorne und nach hinten. Sie sah überall Menschen und stellte fest: „Ich bin der Mittelpunkt der Welt.“ Wer sich verträumt auf einen kleinen Hügel setzt und tagelang ausharrt, könnte auf die Idee kommen, das sich Sonne und Sterne um den eingerichteten Wohnsitz drehen, der den Menschen ein Zuhause bildet. Doch schon lange haben aufmerksame Beobachter diesen Eindruck angezweifelt und mit Nikolaus Kopernikus einen Publizisten gefunden, der im 16. Jahrhundert ein erstes richtiges heliozentrisches Weltbild aufstellte. Die Welt lag nicht mehr im geliebten Mittelpunkt, sondern kreiste lediglich mit anderen Planeten um die Sonne.

Die biologische Kränkung

Charles Darwin hat der Menschheit die biologische Kränkung offenbart. Der Mensch wähnte sich als Krone der Schöpfung und machte sich Pflanzen und Tiere Untertan. Das der Mensch aber am Ende mit allen weiteren Geschöpfen einen gemeinsamen Vorfahren hat, aus dem sich die Vielzahl der verschiedenen Lebewesen auf dem Zeitstrahl der Evolution entwickelten und noch weiter entwickeln werden, hat dem Menschen den Menschen als zentrales Schöpfungsideal gerissen. Für manche noch immer ein trauriges Ärgernis.

Die psychologische Kränkung

Wenigstens konnten sich die Menschen noch an ihrer Selbstbestimmung festhalten. „Ich handele kontrolliert und bewusst“ – bis „The Master himself“, Sigmund Freud, den Menschen auch diesen Zahn gezogen hat. Das Bewusstsein des Menschen lugt wie bei einem Eisberg nur als kleiner Teil in die Luft. Den größten Teil macht das Unterbewusstsein aus und steuert den Menschen mehr, als ihm lieb ist. Ärgerlich, wenn etwas anderes die Regie im eigenen Haus übernimmt.

Die Kränkung der Verlorenheit in der Zeit

Der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg schrieb zu seinem Buch „Lebenszeit und Weltzeit“ (1986): „Zeit ist das im meisten Unsrige und doch am wenigsten Verfügbare.“ Ein „Urkonflikt“ des Menschen, der eine „unschlichtbare Rivalität“ zwischen eigener, fremder Lebenszeit und Weltzeit beschreibt. Lichtgeschwindigkeit ist verdammt schnell. Aber das Universum ist verdammt weiter. Mit allem was so um die 40 Lichtjahre entfernt ist kann der Mensch nur noch äußerst eingeschränkt kommunizieren. Als Jugendlicher sendet er eine Frage hin – als Senior bekommt er die Antwort zurück. Vielleicht hat er noch Zeit, eine zweite Frage zu stellen. Übrigens: Der Andromeda-Nebel ist zwei Millionen Lichtjahre entfernt. Bestimmt gibt es da Lebewesen. Ein Blick auf die Uhr aber zeigt: Das ist egal. Blumenberg nennt diese Erkenntnis „Bewusstsein der menschlichen Episodizität“. Diktatoren fehlt diese Erkenntnis. In ihrem Starrsinn können sie sich nicht vorstellen, dass nach ihrem Untergang die Weltzeit weiter existiert. Kein fehlgeleiteter Herrenmensch wird mit seinem Untergang die Welt mitnehmen.

Die Kränkung der Landbewirtschaftung

Kurz nach der neolithischen Revolution, als die Menschen auch gleichzeitig Bauern waren, haben sich die Menschen selbst ernährt. Sicher gab es den einen Chef oder den anderen Barden, der seinen Lebensunterhalt auf andere Weise verdiente und „miternährt“ wurde; aber die Mehrheit hat Beeren gesammelt, Dinkel angebaut oder Tiere gejagt. Die Wiederkäuer haben den Menschen auf allen seinen Wegen begleitet. Sie stammen auch aus der Steppe und veredeln ungenießbares Gras zu Milch und Fleisch. Geflügel und Schweine wurden domestiziert. In der agrarisch geprägten Lebensweise war eine Trennung von Herd und Familie mit dem Hungertod verbunden. Die bäuerliche Lebenswelt hat sich in das Stammhirn gebrannt und die weitere Evolution des Geistes in den Tiefen des Gesellschaftsgedächtnisses überdauert. Noch heute sind die Bauern die freien Landbewirtschafter, während der Landwirt der Bewirtschafter des feudalen Bodenbesitzers war.

Urchristentum und Marxismus sind sich deshalb so nahe, weil von einer Gütergemeinschaft die Rede ist. In der Apostelgeschichte heißt es (2, 44 – 45): „Alle Gläubiggewordenen aber hatten alles miteinander gemeinsam. Sie verkauften ihren Besitz, ihre Habe und verteilten sie an alle, je nachdem einer bedürftig war.“ Noch heute üben Allmenden einen besonderen Reiz aus und sollen bewahrt werden. Der Philosoph Konrad Fahrner allerdings räumte in seinem Buch „Theologie des Kommunismus“ ein: „Es war eine Gemeinschaft von mehrheitlich Armen und Besitzlosen“.

Während in der Antike Politik und Kultur noch für jeden zugänglich waren und das „bäuerliche“ in jedem steckte, brachte das Abendland elitäre Strukturen hervor. Mathematik für Mathematiker, Politik für Politiker und darin, so hat es Oswald Spengler in seinem Buch „Untergang des Abendlandes“ geschrieben, die Entdeckung der faustischen Seele. Mit dem Städtebau beginnt die Umwandlung der Werte, so Spengler, und die Kultur wandelt sich zur Zivilisation. Das Menschliche wird entseelt, zum Nihilismus. Der faustische Idealist zertrümmert die Ideale und der Pöbel tritt als „neuer Mensch der Zivilisation“ an die Stelle des Volkes. Das echte Bauerntum bildet das Überbleibsel der Kultur.

Doch wird auch das immer weniger. Zumindest im zentralen Abendland. Die Industrialisierung hat die Bauern vom Land „befreit“. Die Technisierung der Landbewirtschaftung hat zum Verzicht auf viele Menschen geführt, die aber zuerst im Industriesektor und heute im „White Collar“-Sektor untergekommen sind. Niemand macht sich mehr die Finger schmutzig und der aktuelle Flächenverbrauch ist vergleichbar mit dem Satz Spenglers, dass Städte auf den Trümmern der Bauerngesellschaft entstehen.

Die entseelte Mehrheit bildet sich in den Städten des 21. Jahrhunderts ein eigenes Ideal von der Landbewirtschaftung. Die Sehnsucht nach Romantik zwischen den Gebäudeschluchten verklärt die Signale des Stammhirns, das von der „guten alten Zeit“ träumt: Die ganze Familie musste zu Beginn des Winters zusammenkuscheln. Der verbleibende Rest des 21. Jahrhunderts durfte sich neu definieren. Er baut seinen Stolz auf der Arithmetik auf, alleine mehr als 100 Menschen zu ernähren. Die Stickstoff-Peitsche, der Einsatz des Mineraldüngers in den 1960er Jahren, hat zu unerwarteten Ertragssteigerungen geführt. Die modernen Landwirte sind Beherrscher gigantischer Maschinen und versorgen nicht nur die Nachbarstadt, sondern seit einigen Jahrzehnten auch die Welt. Sie begründen es mit ihrem Gunststandort, der dem Klimawandel trotzt. Sie sichern ihre Ernten, die am Ende noch immer vom Wetter abhängig sind, an der Börse ab. Pflüge werden nanobeschichtet, Pflanzen im Labor erzeugt. Das Bauerntum hat sich verselbstständigt und im Sinne der nachholenden Entwicklung die Landbewirtschaftung zu einem Hightech-Prozess geführt. Die Landwirte stehen den Industriebossen in nichts mehr nach. Daraus resultiert das neue „bäuerliche“ Selbstverständnis. Die Landwirte haben das Monopol der Ernährung und die Mehrheit der Menschen abhängig von ihren Diensten gemacht.

Doch der Blick auf Berliner Flugfelder und Hinterhöfe zeigt einen neuen Trend: Landwirtschaft ohne Bauern: Die Aufhebung des Monopols. Entwicklung in den Entwicklungsländern ist die Förderung der Kleinbauern, die keine Subsistenzbauern mehr sein wollen. Die Nachfahren der frühzeitig aus der Bauernschaft entrückten Menschen machen sich auf den Weg, aus der Agrarproduktion wieder eine Gütergemeinschaft für alle zu machen.

In Containern werden Tomaten und Süßwasserfische erzeugt, mit Gemüsegärten setzen die entseelten Menschen ihre Stammhirn-Träume um. Vor allem im Gemüsebau produziert der eigene Garten genug für die eigene und Nachbarsfamilie. Um Brot zu backen brauchen die neuen Mütter keine Brotmaschinen mehr. Sie bringen sich das Backen selbst bei und versorgen noch allein stehende Agrarjournalisten. Wozu noch Rebflächen verwalten? In der Neuzeit besitzt jeder seinen eigenen Weinberg neben seinem Wochenendhäuschen.

Die modernen Bauern sind verärgert und traurig! Den Ausweg aus der 5. Kränkung nannte Dr. Martin Piehl vom Landesbauernverband Mecklenburg-Vorpommern auf der Mela 2014: „Moral und Ethik entwickeln sich in der Gesellschaft immer weiter. Dem müssen sich auch die Bauern stellen.“

Roland Krieg

Zurück