Die Studie in gestriger Machart
Landwirtschaft
Pflanzenschutzmittel in der Ampelkoalition
Am Dienstag nutzte Steffi Lemke die Möglichkeit im Bundestag ihr Programm für das Bundesumweltministerium vorzustellen. Für die Landwirtschaft kündigte sie eine Agrarwende an, „den Verbraucherschutz, Natur- und Tierschutz und die Wirtschaftsgrundlage für Landwirtinnen und Landwirte neu verbindet, die Pestizide und Nitrateinträge in die Ökosysteme reduziert – am besten, was den Eintrag in Naturschutzgebiete anbetrifft, sehr schnell gegen null.“ Die Null-Toleranz hat sie zwar erst einmal nur für die Naturschutzgebiete formuliert, doch die Studie der Heinrich-Böll-Stiftung vom Folgetag hat die allgemeinen Schreckenszenarien des chemischen Pflanzenschutzes auf 52 Seiten in Manier der 1980er Jahre dargestellt.
Stefan Bilger (CDU) bezweifelte dann auch, dass in der neuen Ampelkoalition „wirklich so ein kooperativer Ansatz festzustellen ist.“ Die Bauern brauchten keine Wiederbelebung des Feindbildes einer „profimaximierenden und umweltvergessenen Landwirtschaft.“
Und in der Tat Carsten Träger von der SPD blickt lediglich auf das Insektenschutzpaket der Vorgängerin Svenja Schulze zurück. Niemand von allen Rednern nahm das Wort Pflanzenschutzmittel in den Mund. Und Judith Skuldeny von der FDP betonte: „Diese Koalition ist nicht die Liebe auf dem ersten Blick.
Pestizidatlas in Kampagnenmanier
Ganz anders warb der erstmalige „Pestizidatlas“ der Heinrich-Böll-Stiftung in tradierter Kampagnenmanier gegen den chemischen Pflanzenschutz und hat ein Mehrjahresthema eingeleitet, das inhaltlich schon viel weiter und differenzierter diskutiert wird.
Ein Rückblick: 1320 fand der erste urkundlich dokumentierte Insektenprozess gegen den Maikäfer im französischen Avignon statt. Die ersten geistlichen Beschwörungen gegen Schadtiere sind nach Autorin Karin Barton sogar auf das Jahr 824 im Aosta-Tal gegen Maulwürfe zurückzuführen [1]. Schadtiere konnten nach kirchlichem Ermessen gebannt werden: „Denn die natürliche Vernunft sagt uns, das den Menschen die notwendige Nahrung zum Leben besser dient als diesen Schädlingen. Es ist klar bewiesen, dass man solche Tiere bannen soll, wenn man ihre Schäden auf andere Weise nicht verhüten kann.“
Rund um die Welt gibt es Menschen mit irischen Vorfahren. Das resultiert aus der großen Auswanderungswelle Mitte des 19. Jahrhunderts von der grünen Insel, um nicht, wie rund eine Million Iren an der Hungersnot direkt oder infolge von Krankheiten durch Mangelernährung zu sterben. Der wichtigste Baustein der „Großen Hungersnot“ war der Schaderreger Phytophthora infestans. Den Armen faulte das einzige Grundnahrungsmittel weg.
Auch die so genannten Rübenwinter in Deutschland haben sich in das kollektive Gedächtnis der Urängste der Menschen eingebrannt. Als Schadpilz hat die Kraut- und Knollenfäule 2021 in Süddeutschland bis zu 70 Prozent der Bio-Kartoffeln verfaulen lassen. Das war dem Verein „Bio Kartoffel Erzeuger“ Mitte Oktober nur noch eine Zusatzinfo zum Bio-Kartoffelmarkt wert. Es gibt ja noch genug – und wenn nicht, essen die Menschen eben konventionelle Kartoffeln.
Die Entwicklung von Pflanzenschutzmitteln ging immer mit der Erkenntnis zusammen, was, wann, welche Schäden an verschiedenen Kulturpflanzen anrichten. Scheinbar moderne und alles Schädliche vernichtende Mittel, wie beispielsweise DDT, haben sich allerdings auch in das kollektive Gedächtnis als Urangst, vergiftet zu werden, eingebrannt. Die persistenten organischen Verschmutzer (Persistent Organic Pollutants) stehen auf der Bannliste des Stockholm Abkommens [2].
Der Ausblick
Keine Frage, dass bei dem Thema chemischer Pflanzenschutz mehr getan werden muss. Differenzierungen, die selbst im Atlas, oft nur auf Karten vorhanden sind, tauchen in den veröffentlichten Kurzfassungen nicht auf. Es bleibt das Bild, auf chemische Pflanzenschutzmittel verzichten zu können. Das Thema zwischen „Verhungern oder Vergiften“ anzusetzen, unterstreicht die Befürchtungen Bilgers im Bundestag. Es klingt gut, wenn auf einer langjährig bewirtschafteten Ökofläche 17-mal mehr unterschiedliche Pflanzen wachsen, als auf Flächen mit chemischer Schädlingsbekämpfung. Aber auch der Öko-Bauern will bei der Ernte nur die eine Pflanze ernten, mit der er Geld verdienen kann.
Der Aufschwung der mechanischen Unkrautbekämpfung in Deutschland resultiert aus der Diskussion über Pflanzenschutzmittel, dem zunehmendem Verbot von Wirkstoffen und dem technischen Fortschritt, zwischen und in den Reihen die Zielpflanzen zu erwischen.
Der Anspruch des Atlasses ist der weltweite Ausblick. Die Karten zeigen, dass in Europa mit zwei Kilogramm Pflanzenschutzmittel pro Hektar (nicht Wirkstoff) nur noch Afrika mit der Hälfte weniger verbraucht. Asien, Russland und Südamerika versprühen mehr als das Doppelte (S. 11). Dort wäre ein Reduktionserfolg schneller und umfangreicher zu erzielen.
Innerhalb Europas zeigt sich bei den europäischen Substitutionskandidaten, die von der EU auf der Streichliste stehen, Deutschland nach Skandinavien weniger Mittel verwendet als der gesamte mediterrane Raum.
Der Industrieverband Agrar hat sich auf zweifelhaft verwandte Daten in der Studie bezogen [3]. Beim Thema Export von verbotenen Pflanzenschutzmitteln wird ein Verbot für die EU alleine nicht reichen. Das steht in der EU-Studie zu diesem Thema [4], die sich für ein Exportverbot durchaus ausgesprochen hat. Aber in den Ländern mit hohem Pestizideinsatz müssen entsprechende Maßnahmen durchgeführt werden, denn in den kommenden Jahren steigt der Bedarf an Pflanzenschutzmitteln. Und der ökologische Landbau ist bislang den Beleg schuldig, eine ganze Region vollständig zu ernähren.
Mehr Antworten benötigt
Das Modell für den Integrierten Pflanzenschutz liegt seit 40 Jahren auf dem Tisch, hat die Landwirte aber wirtschaftlich noch nicht überzeugen können [5]. Ohne eine überzeugende Finanzierung wie im Ökolandbau. Mit einer Bedrohungsstudie ist der Diskussion nicht geholfen.
Das wird erst bei Nachfragen deutlich. Katrin Wenz vom BUND wollte die oben aufgeführten Kritiken nicht gelten lassen, sondern will die Diskussion „offen im Sinne des Schutzes von Umwelt, Klima und Verbrauchern und mit der Wertschätzung gegenüber den Landwirten, mit denen gemeinsam nach Lösungen für alternative Maßnahmen zum Pestizideinsatz gesucht werden muss und die bei der Umstellung finanziell unterstützt werden müssen.“ Auf Anfrage von Herd-und-Hof.de will sie die Regionen nicht gegeneinander aufrechnen, wer besser oder schlechter sei, sondern „welche guten Beispiele europaweit auf andere Länder übertragbar sind.“
Das wäre die dänische Pestizidabgabe oder das französische Verbot von Pflanzenschutzmitteln in Privatgärten.
Lesestoff:
Pestizidatlas 2022: https://www.boell.de/de
[1] Barton, Karin: Verfluchte Kreaturen, in Jahrbuch 2004 der Lichtenberg-Gesellschaft, S. 11 https://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/3252/3/Sammelmappe3.pdf
[2] https://ec.europa.eu/environment/chemicals/international_conventions/index_en.htm
[3] IVA: Die anderen Studien: https://www.iva.de/newsroom/neuigkeiten/pressemitteilung/iva-zum-pestizidatlas-schade-die-debatte-war-schon-weiter
[4] PSM im globalen Süden: https://herd-und-hof.de/landwirtschaft-/pflanzenschutzmittel-in-entwicklungslaendern.html
[5] Die Zeit wäre da: https://herd-und-hof.de/landwirtschaft-/die-zeit-schlaegt-fuer-den-integrierten-pflanzenschutz.html
Roland Krieg
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