Digitale Projekte für das Tierwohl

Landwirtschaft

Mit DigiTier zu objektivem Tierwohl

Ein gerader Rücken wird entzücken. Das gilt auch bei Milchkühen. Ein aufgekrümmter Rinder-Rücken weist auf Probleme mit den Klauen hin. Klauenkrankheiten zählen zu den häufigsten Abgangsursachen aus dem Milchviehstall sind zu 80 bis 90 Prozent für Lahmheiten verantwortlich. Wenn das Tier seinen Rücken bereits krümmt leidet es unter Schmerzen und die Krankheit hat bereits begonnen.

Sensoren können Rückenkonturen meist vor dem Landwirt erkennen und melden den Beginn einer Erkrankung. Die Universitätsmedizin der Berliner Charité beschäftigt sich bei dem Projekt „MuKoLa“ wissenschaftlich mit dem Thema. Unter der Koordination des Julius Wolff Instituts zusammen mit dem Verbundpartner MCG motion capture GmbH sammeln die Wissenschaftler zunächst einmal eine Vielzahl an physiologischen Rückenformen von beschwerdefreien Rindern in einer Vergleichsdatenbank. Die Messungen werden von außen bestimmt. Die Tiere bewegen sich frei und geben so die gesunden Rückenformen vor. Kurz- und Langzeitmessungen von Rückenformen werden mit Algorithmen aus der Humanmedizin bewertet, um Einzeltiere mit Klauenerkrankungen möglichst früh zu bestimmen. Da die Rinder mit ihren Transpondern eindeutig identifizierbar sind, werden die Daten mit Alter, Aktivität und Milchleistung kombiniert. Die Softwarelösung soll eine Brücke zwischen Einzeltier, Landwirt und Veterinär für die Erkennung von Krankheitsverläufen und Therapieerfolgen schlagen.

Objektive Datenerfassung

Das bis Anfang 2024 laufende neue Forschungsprojekt gehört zu den ersten 13 Forschungsvorhaben von „DigiTier“. Dahinter verbirgt sich die „Digitalisierung in der Nutztierhaltung“ und eröffnet dem Smart Farming neue Ideen und Lösungen, die meist nur im Bereich des Ackerbaus in die Zeitungen kommen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) fördert DigiTier mit insgesamt 12,5 Millionen Euro, Die Projekte sollen nicht nur das Tierwohl fördern, sie sollen die Arbeitsbelastung der Landwirte verringern und die Rückverfolgbarkeit in der Wertschöpfungskette verbessern.

Zum Auftakt sagte Hans-Joachim Fuchtel, Parlamentarischer Staatssekretär beim BMEL, konstatierte zum Projektauftakt diesen Mittwoch: „Die Transformation der Landwirtschaft muss und wird weitergehen.“ Mit digitalen Lösungen als „Betriebsmittel der Zukunft“ können Landwirte den Kostendruck auffangen, Biosicherheit gewährleisten und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden. Lösungen wie MuKoLa sind tiefgreifende Eingriffe in die Arbeitsweise der Landwirte. Nach Fuchtel gibt es beim digitalen Wandel eine Reihe an Herausforderungen, wie die Themen Datenhoheit, Ausbildung, Datenplattformen – aber auch die Mitnahme aller Betriebe. Die Politik muss mit den Technologen des Smart Farming sowohl den Großbetrieb mit 1.000 Hektar, als auch den Familienbetrieb mitnehmen. „Die kleinen Betriebe dürfen aus wirtschaftlichen Gründen nicht von der Digitalisierung abgehängt werden“, mahnt Fuchtel.

Schöne neue Welt

Für den Buchautor Olaf Deininger führt die nach dem Internet „zweite digitale Revolution“ in eine neue Welt. Die digitalen Inseln beginnen sich zu verbinden, die Künstliche Intelligenz wird Basistechnik und Vorbeugesysteme ergänzen klassisches Wissen. Mittlerweile bieten Startups Sensoren an, die von den Rindern mit dem Futter aufgenommen werden,  und Stoffwechseldaten aus dem Magen in Echtzeit für eine Früherkennung von Krankheiten sorgen. Was in der Landwirtschaft anfängt, arbeitet sich entlang der gesamten Wertschöpfungskette bis zum Regal im Lebensmitteleinzelhandel weiter. Der Drogerist „dm“ hat mit seiner effizienten Warenbeschaffung die Menge an Artikeln in den Filialen verringert, ohne dass das Angebot für die Kunden kleiner wurde, und brauchte damit die Regale nur noch halbhoch im Raum zu nutzen. Für den Kunden ergibt sich ein anderes Einkaufsgefühl mit mehr Licht und luftigem Raum im Geschäft. Für die Lebensmittelwirtschaft reduzieren Techniken die Abfallmengen.

Das führt nach Deininger zu einer „new Food Economy“, die Erzeugung, Lagerung und Lieferwege effizienter gestaltet, die Rückverfolgbarkeit für die Kunden verbessert und die Infrastrukturkosten, Grenzkosten und Transaktionskosten reduziert. Es können 30 Prozent der Ressourcen eingespart werden – und in der neuen Welt von Deininger geben die Händler die ihre Ersparnis über höhere Erzeugererlöse an die Landwirte weiter.  

Anforderungen aus der Praxis

DigiTier zeigt die ganze Bandbreite an digitalen Lösungen, von denen in der breiten Öffentlichkeit meist nur über Anwendungen im Ackerbau gesprochen wird. Von Klimadaten für eine gesunde Tierumgebung bis zu Stoffwechselindikatoren aus dem Rindermagen weisen Sensoren auf die Möglichkeiten in Tierhaltung. Die Praxis zeigt sich damit zunächst einmal zufrieden. Dr. Peter Pascher vom Deutschen Bauernverband (DBV) und dort verantwortlich für Betriebswirtschaft und Digitalisierung sieht in der Digitalisierung ein großes Potenzial, die kritischen Diskussionen in der Gesellschaft über die moderne Tierhaltung zu versachlichen und damit ein stückweit zu befrieden. Landwirte können neben den eigenen unternehmerischen Interessen, der Öffentlichkeit die artgerechte Haltung anhand der Digitalisierungsfortschritte belegen: „Wir haben das Betriebsergebnis nach allen politischen und gesellschaftlichen Vorgaben erzielt.“

Gerade die junge Generation von Landwirten ist technikaffin und zählt zu den „digital natives“, erläutert Pascher am Rande der Veranstaltung gegenüber Herd-und-Hof.de. Diese jungen Landwirte wissen, was eine App ist, sie wissen, was sich in der Entwicklung befindet und tauschen sich untereinander aus.

Es gibt sogar Einzelne, die Drohnen selber bauen und bereit sind, umfangeiche Handbücher vor der Nutzung neuer Technologien durchzuarbeiten. Doch die meisten, so Pascher, wollen das Prinzip „plug and play“. Die Technik muss in den handwerklich anspruchsvollen Berufsalltag passen.

Daraus leitet der DBV verschiedene Forderungen zum Abbau von Hemmnissen ab, die einer breiten Umsetzung digitaler Lösungen im Wege stehen. Für Peter Pascher steht dabei die digitale Infrastruktur an erster Stelle. Für die wachsenden Datenmengen, ihre Verarbeitung mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz in Echtzeit muss eine vernünftige Netzinfrastruktur auch für den entferntesten Stall und die letzte Ackerfläche zur Verfügung stehen. Die Rede ist von wirklich flächendeckender Glasfaser- und 5G-Mobilfunkversorgung.

Landwirte brauchen als Unternehmer Freiheit, zwischen verschiedenen Technikanbietern wechseln zu können. Die herstellerunabhängige Schnittstelle sollte das Ziel sein, an dem allerdings noch mit Nachdruck gearbeitet werden muss, so Pascher. In der Milchtechnik zum Beispiel sind nur wenige Unternehmen unterwegs, die aber mit ihren digitalen Lösungen jeweils ihr Alleinstellungsmerkmal suchen und einen Datenaustausch mit Melktechnik ihrer Wettbewerber eher ausbremsen. Letzteres ist aber bei überbetrieblichen Auswertungen oder auch bei Technikwechsel von „elementarer Bedeutung“.

Für Pascher wird im Bereich der Digitalisierung sehr viel geforscht, von den Wirtschaftspartnern der Landwirte und ganz besonders in der öffentlichen Forschung. Das sei zunächst einmal gut so. Eine stärkere Orchestrierung dieser öffentlichen Forschung aber könnte zu schnelleren Digitalisierungsfortschritten verhelfen. Es fehlt der Dirigent, der aus den Einzelinstrumenten das Smart Farming formt.

Landwirte wissen um die Vorteile der Digitalisierung, wenn sie funktioniert, einfach und praktikabel das Betriebsergebnis optimiert, Ressourcen einspart und die Arbeit und das Monitoring vereinfacht. In den vom DBV durchgeführten Befragungen bei den Landwirten zeichnen sich aber weitere konkrete Hemmnisse für die Einführung digitaler Technologien ab. An erster Stelle beklagen Landwirte unter den TOP-3-Hemmnissen die zu hohen Kosten. An zweiter Stelle steht die mangelhafte Infrastruktur und dann folgt mit größerem Abstand die Sorge um die Datensicherheit und eigene Datenhoheit. Wenn ein Landwirt merkt, dass beispielsweise ein Lohnunternehmer oder ein Landmaschinenhersteller, Betriebsdaten für die eigene Wertschöpfung nutzen, ohne selbst davon zu wissen, entsteht Argwohn und geht Vertrauen verloren. Der Landwirt wird in den meisten Fällen den Geschäftspartner wechseln. bleiben sie skeptisch. Für Pascher steht daher die Transparenz über die Nutzung der Daten im Mittelpunkt des Geschäftsverhältnisses zwischen den Wirtschaftspartnern. Privatstaatliche Lösungen gilt der Vorzug vor möglicherweise staatlichen und damit bürokratischen Regeln: „Der Staat kann nie so flexibel wie die Wirtschaft sein.“

Internet of Livestock

Das Projekt „Internet of Livestock“, u.a. mit der Sächsischen Landesanstalt für Landwirtschaft im Fachbereich Tierische Erzeugung, bildet symbolhaft das Gesamtthema ab: „Die Entwicklung der Produktionsprozesse in der Nutztierhaltung ist gekennzeichnet von der Nutzung verschiedenster Sensoren, Roboter und Kommunikationssysteme“. Die müssen allerdings noch mehr miteinander verbunden werden, damit die digitale Tierhaltung ihre Fortschritte umsetzt.

Die landwirtschaftlichen Betriebe müssen nach Carsten Gieseler von Fodjan, dem digitalen Fütterungsoptimierer, als Ökosystem neu verstanden werden. Der Landwirt bleibt Lenker und Entscheider des Betriebs, aber mit der steigenden Professionalisierung erreicht er ein neues Verantwortungsniveau. Heiko Terno vom AWO-Reha-Gut Kemlitz in Brandenburg hat sich nach 25 Jahren Melkkarussell für fünf Melkroboter entschieden. Die 350 Kühe gehen selbstbestimmt zum Melken und seinen Worten nach gibt es eine neue Ruhe im Stall. Die Mitarbeiter sind nicht mehr mit dem Auftrieb und Melken, sondern mit der Tierbeobachtung beschäftigt. Lars Abraham, Vorstandsvorsitzender des Arbeitskreises Landwirtschaft bei Bitcom sagt, dass neben den Landwirten die Herdenmanager für die digitale Unterstützung überzeugt werden müssen. Danach verändert sich das Herden- zum Einzeltiermanagement.

Datenplattform

Sorgen bereitet die Zusammenarbeit vieler Firmen mit Cloudlösungen im außereuropäischen Ausland. Mit dem Projekt „GAIA-X“ wird eine vernetzte europäische Datenstruktur geschaffen, um die hohen Schutzstandards in der EU gewährleisten zu können. Speziell für die Landwirtschaft formiert sich mit ATLAS (Agricultural Interoperability and Analysis System) eine zentrale Datenplattform für das Zusammenspiel von Sensoren, Landmaschinen und Agrarsoftware. Das könne die Lösung für die verschiedenen Schnittstellen sein. Gieseler plädiert für den Ausbau der vor zwei Jahren gestarteten Entwicklung zu einem Art „TÜV-System“. Unternehmen könnten ihre Systeme „ATLAS-ready“ zertifizieren und den Landwirten damit den Technikwechsel erleichtern.

Lesestoff:

In den 13 Verbundprojekten sind 55 geförderte Teilprojekte verbunden: www.digi-tier.de

Roland Krieg; Grafik: Projekt MuKoLa; Fotos: roRo

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