Einmal Binnenmarkt ohne Agrar, bitte!

Landwirtschaft

Nimmt sich der Agrarbereich in der EU zu wichtig?

Der Blick zurück: Die Reise von München nach Hamburg im Jahr 1805 führte durch dutzende von Fürstentümern mit unterschiedlichen Maßen, Währungen und vielen Zollstationen. Wer heute die Reise unternimmt kann von Neapel bis Kiel Benzin mit dem gleichen Standard tanken, mit dem gleichen Geld bezahlen und selbst bis zum Nordkap außerhalb der EU sicher sein, dass ein Kilo Äpfel auch 1000 Gramm sind.

Der Traum vom EU-Binnenmarkt basiert auf der Überwindung von Handelshemmnissen, dem freien Waren-, Kapitalverkehr und Freizügigkeit der Arbeiter. Der Weg ist lang und nicht unumstritten. Der Markt mit mehr als 500 Millionen Menschen ist das Herzstück der EU, um das andere Wirtschaftsgemeinschaften wie der ASEAN oder der Mercosur die Europäer beneiden. Das Potenzial des Binnenmarktes ist jedoch noch lange nicht ausgeschöpft. Deshalb hat die EU Ende Oktober eine neue Strategie aufgelegt, die Fesseln zu lösen und mit Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand die Finanzkrise endlich zu überwinden.

Single Market Strategy

Elzbieta Bienkowska tourt derzeit durch Europa und wirbt als EU-Kommissarin für den Binnenmarkt für die neue Strategie. Seit Donnerstag weilt sie erstmals in Berlin und machte Station im Haus der deutschen Wirtschaft. Die Forcierung der Umsetzung vorhandenen Verordnungen sollen Bürgern, Industrien und Unternehmen für mehrere Dekaden neue Geschäftsfelder geben. Seit drei Jahren nehmen Unternehmensgründungen in der EU zu, doch hätten zu wenige Möglichkeiten, sich zu vergrößern – schon gar nicht über Grenzen hinweg. Ein verbessertes Rahmenwerk soll Gründungen vereinfachen und Mehrwerte an der Basis belassen.

In den nächsten zwei Jahren sollen Regeln geschaffen werden, die insolventen Neugründungen eine zweite Chance geben, die Wettbewerbskraft kleiner Unternehmen stärken, die Harmonisierung von Standards sicher stellen und der Zugang zu öffentlichen Finanzhilfen verbessert werden.

Bienkowska sieht die Zukunft in der Industrie, weil Verwaltung keine Arbeit schaffe. Im Vordergrund steht der Dienstleistungssektor. Die Hürde ist hoch: Bienkowska sieht selbst in der Zweiteilung Schengen / Nicht-Schengen oder Euro / Nicht Euro keinen reinen Binnenmarkt. Es gibt zu viele Regeln und Hürden, betonte sie vor Wirtschaftsvertretern mehrfach.

Und Agrar?

Allerdings zersplittert die Kommission den Binnenmarkt auch selbst. Die DG Agri mit Kommissar Phil Hogan hat das nationale Opt-out für den Gentechnikanbau vorgeschlagen: Angenommen und befindet sich in der Umsetzung. Die DG Sanco hat den Ausstieg aus der Verwendung im Handel bei Futter- und Lebensmittel vorgeschlagen und ist am Europaparlament gescheitert. Doch Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis will trotz Ablehnung einen neuen Vorschlag einbringen. [1]. Zwei DG zersplittern also schon den Binnenmarkt. Von Herd-und-Hof.de daraufhin angesprochen bestätigte Bienkowska zwar, dass sich auch mehrere Agrarminister gegen solche Ideen als Verstoß gegen den Binnenmarkt beschwerten, kam dann aber kurz und knapp zu dem Statement: „GMO is a national competence!“

So einfach ist das Problem von der DG Binnenmarkt wegdefiniert. Offen bleibt, was der Agrarsektor von den anderen Wirtschaftssektoren lernen kann, oder ob die anderen Sektoren, mit auch nicht harmonisch verlaufenden Debatten, vom Agrarbereich lernen könnten?

Marktintegrationsbericht

Der Start der EU-Initiative fiel zusammen mit dem aktuellen Fortschrittsbericht der europäischen Marktintegration. Demnach wird die Landwirtschaft, obwohl einzig noch vergemeinschafteter Haushalt, künftig kürzer treten müssen. Auch, wenn ohne Bauern die Teller leer bleiben.

Die Entwicklung der europäischen Ökonomie zeichnet sich durch einen Strukturwandel aus, der Aktivitäten und Ressourcen aus dem Agrarbereich in das Handwerk entlässt und später in den Dienstleistungsbereich. Dieser tertiärer Sektor gewinnt bei Arbeitskräften und Erzeugung zunehmend an Bedeutung. Zwischen 2004 und 2014 ist der Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung gesunken. In Belgien, Frankeich, Griechenland, Luxemburg, Malta, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich stellt der Dienstleistungsbereich bereits mehr als 75 Prozent der Bruttowertschöpfung. Lediglich in sechs EU-Ländern, darunter Deutschland ist in dieser Zeitspanne der Dienstleistungssektor gesunken.

Wer im Landwirtschaftsbereich übrig bleibt, wirtschaftet jedoch mit hoher Produktivität. Da steht der Agrarbereich nach dem Informationssektor und dem Handwerk gleich auf dem dritten Platz, noch vor der Industrie und dem Finanzsektor.

Lesestoff:

Umfangreiche Dokumente und den Markt-Integrationsbericht 2015 finden Sie auf der DG Growth http://ec.europa.eu/growth/index_en.htm

[1] EU-Parlament lehnt GVO-Vorschlag der Kommission ab

Roland Krieg; Foto: roRo

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