Freisetzung von Kartoffeln in MV

Landwirtschaft

Wissen bis ins Detail

Wenn bei einem Fußballspiel die eine Mannschaft in der 88. Minute mit fünf Toren Vorsprung führt, dann muss der Wissenschaftler die zwei Minuten Restspiel- und die Nachspielzeit verstreichen lassen, bevor er zu einer endgültigen Aussage kommt, wer das Spiel gewonnen hat. Schließlich kann die führende Mannschaft nachträglich disqualifiziert werden, wechselt sie zehn Sekunden vor Spielende noch einen Spieler ein, der nicht auf dem Spielerbogen gestanden hat. Dann hat sich der eine Fan zu früh gefreut, der andere zu früh getrauert. Dieses Wissenschaftsverständnis hat die Forschung weit gebracht – und unser Leben gut gestaltet. Es ist aber auch gleichzeitig die Krux, Unverständnis darüber hervorzurufen, dass erforscht werden soll, was nicht unbedingt erforscht werden muss. Und wer entscheidet über das „müssen“?

BVL genehmigt Kartoffelversuche
Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Freisetzungsversuche mit Kartoffeln in Deutschland, auch am Standort Groß Lüsewitz in Mecklenburg-Vorpommern. Trotzdem sah sich Prof. Dr. Inge Broer, Inhaberin des Lehrstuhls für Agrarbiotechnologie und Begleitforschung an Bio- und Gentechnologie der Universität Rostock, gezwungen, gestern morgen zu einer Pressekonferenz in das Labor des AgroBioTechnikums zu laden. Im Vorfeld der Versuche hieß es immer wieder, dass „Pest und Cholera“ in Mecklenburg-Vorpommern freigesetzt würden. Kurz vor dem öffentlichen Pflanzen der umstrittenen Nachtschattengewächse auf das Freigelände, nahm die Wissenschaftlerin die Gelegenheit wahr, ihre Forschung noch einmal in das rechte Licht zu setzen.
In diesem Jahr werden 3.568 transgene Kartoffelpflanzen auf 832 qm freigesetzt, gegen die es 1.800 Einwendungen gegeben hatte. Drei Kartoffellinien werden in dem Feldversuch in den nächsten drei Jahren getestet, welche Auswirkungen die Pflanzen auf Bodenorganismen, Insekten, die Umwelt generell haben, ob die veränderten Proteine stabil sind und welche allergene und toxische Reaktionen entstehen könnten.
Eine Kartoffel soll während ihres Wachstums ausreichend Polyaspartat bilden, das als biologisch abbaubarer Kunststoff fossiles Ausgangsmaterial wie Erdöl ersetzen kann. Dazu wird eine Stärkekartoffel genommen, die als Industriekartoffel ohnehin nicht für die Lebensmittelindustrie bestimmt ist. Die beiden anderen Kartoffeln enthalten Antigene, mit denen ein Impfschutz aufgebaut werden kann – und die im Mittelpunkt der Kritik stehen.
Die eine dieser Kartoffeln bildet gegen das RHD-Virus bei Kaninchen, das eine haemorrhagische Krankheit auslöst, das Antigen VP60. Die andere Kartoffel beinhaltet das Gen ctxB aus den Choleraerreger. Während des Wachstums bildet die Kartoffel daraus das Protein CTXB, das helfen soll, das Antigen VP60 praktisch über die Schluckimpfung über das Futter durch die Darmschleimhaut zu transportieren, um die Nagetiere zu immunisieren. Die Kaninchen bekommen später daher Pellets vorgelegt, die aus getrocknetem Pulver beider Kartoffel hergestellt sind.

Schutzmaßnahmen
Dr. Broer hält die Kartoffel für eine sichere Versuchpflanze, denn die Vermehrung findet ausschließlich über Knollen statt, was praktisch ein standorttreues Wiederauflaufen bedeuten würde. Pollen kann zwar andere Kartoffelpflanzen befruchten, aber wird keine durchsetzungsfähige Pflanzen entstehen lassen. Die Feldparzelle wird nach dem Versuch jedes Jahr auf neue Kartoffeln untersucht, die dann so lange entfernt werden, bis keine weiteren Knollen mehr nachwachsen. Ein Wildzaun hält Wildschweine ab und Kaninchen, für die es eine stärkere Bemaschung im unteren Teil des Zaunes gibt.

Forschung ist wertfrei
Schon bei den Rapsversuchen spürte das AgroBioTechnikum, dass unter Seehofers Vorgängerin im Bundeslandwirtschaftsministerium vor der Auflösung stand, heftigen Gegenwind. Dabei geht es den Wissenschaftlern um „Vorteile für die Landwirtschaft, Vorteile für die Umwelt und Vorteile für die Verbraucher“, so Dr. Broer. Letztlich geht es um die Gewinnung von nachprüfbaren Daten, um auf dieser Grundlage zu einer Entscheidung zu kommen, ob der Versuch für eine Umsetzung in der Praxis sinnvoll ist – oder eben nicht. Der Begriff „Impfstoff“ alleine reiche nicht aus, von vorneherein ein Experiment zu verhindern. Unabhängig von der Begrifflichkeit, müsse die Entscheidung getroffen werden, je nachdem ob ein Stoff für die Freisetzung geeignet oder nicht geeignet ist. Das wisse man erst nach dem Versuch. Und diese Entscheidung müsse auf der Grundlage von Daten erfolgen und nicht aus einem Bauchgefühl heraus.
Das AgroBioTechnikum arbeitet im Ostseeraum auch mit anderen Biotechnologiezentren zusammen. Die Risikobewertung wird eher in Großbritannien, Spanien und Frankreich durchgeführt, sagte Dr. Broer.

Ein- und Ausgrenzung
In der Landwirtschaft gab es in der Vergangenheit mit dem regenreichen Jahr 2002 und dem Trockenjahr 2003 erhebliche Produktionsschwankungen. Der zurückliegende Winter führt ebenfalls zu Wachstumsverzögerungen. Warum sollen dann ausgerechnet hochwirksame Antigene im Freien heranwachsen, während ein Biofermenter im Labor mit konstanten Produktionsbedingungen hochreine und wirkeffektive Mengen produziert? Darauf angesprochen entgegnete Dr. Broer: „Man braucht die Freilandversuche, um die Unterschiede zum Labor festzustellen.“ Wenn solche Versuche so funktionieren, wie sie gedacht sind, dann seien vergleichbare Praxisbedingungen für den Verbraucher „billiger und sicherer“. Das Freiland ist allemal preiswerter als die Produktion transgener Pflanzen in Gewächshäusern. Baukosten, Insektenschutz und vor allem die Energie wirken gegenüber dem Freiland kostensteigernd.
Wenn allerdings Kunst- und Impfstoffe auf dem Feld produziert werden sollen, dann erhöhe sich doch der Flächendruck? Schließlich soll die Landwirtschaft Nahrungsmittel produzieren, Biomasse als erneuerbare Energie bereitstellen und Flächen für Gewerbe, Infrastruktur und Siedlungswillen der Bevölkerung bereitstellen. Jetzt noch eine zusätzliche Flächennutzung für ganz andere Anwendungen? Generell werde sich der Nutzungsdruck erhöhen und damit die Flächen auch wertvoller machen, stimmte Dr. Broer zu. Auf der anderen Seite zeige aber gerade die „Polymer“-Kartoffel eine Flächeneffizienz: Neben der Stärkegewinnung produziere sie auf der gleichen Fläche mit dem Polymer noch zusätzlich ein zweites Produkt. Und: Mit konventioneller Züchtung ist das gar nicht erreichbar, denn in der Kartoffel gibt es das dazugehörende Gen nicht.
So ist es wissenschaftlich folgerichtig, dass Forscher nicht für das Bauchgefühl zuständig sein wollen – sondern für die Datengrundlage, auf der Entscheidungen getroffen werden sollen.
Aber für den Ort, an dem das „Bauchgefühl“ schließlich für Verbraucher, Wähler und Betroffene entschieden wird, gibt es offenbar keine gemeinsame Grundlage. So verwundert es schon, dass nicht Mecklenburg-Vorpommerns Agrarministerium die Umsetzung der Auflagen kontrolliert, sondern das Sozialministerium. Das liege daran, dass dort das Referat Arbeitssicherheit angesiedelt ist, erklärte Kerstin Schmidt von der im AgroBioTechnikum angesiedelten BioMath GmbH, die für die Auswertungen der Versuche zuständig ist. Das sei von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, ergänzte Dr. Broer.
Die Genehmigung für Freisetzungsverfahren unterliegt federführend dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Andere Institute und Behörden geben jedoch im Vorfeld ihre Beurteilungen ab. Unter anderem das Bundesamt für Naturschutz (BfN), dass in einer Pressemitteilung vom 20. Juni über einen anderen Genehmigungsversuch mitteilte, dass die BASF nicht sagen dürfe, diese sei „nach übereinstimmender Beurteilung“ geschehen. Das BfN hatte als Schutzmaßnahme einen höheren Abstand zu Natura 2000-Gebieten vorgeschlagen, der dann vom BVL nicht berücksichtigt wurde.
Keine Einheitlichkeit gibt es auch auf internationaler Ebene. Seit 1996 wurde die Anbaufläche für transgene Pflanzen um das fünfzigfache auf mittlerweile rund 90 Millionen Hektar ausgeweitet. Raps beispielsweise gilt aber selbst dem Bundesverband deutscher Pflanzenzüchter als nicht koexistenzfähig, wie Vorstand Wolf von Rhade letztens in Berlin mitteilte.
Wenn die Wissenschaft als Handlungskorrektiv belegbare Zahlen an die Politik übermittelt, dann muss die Politik angesichts eines zerstörten Ökoraps-Marktes in Kanada auch ein Handlungskorrektiv an die Wissenschaft geben. Beispielsweise: Mit Raps, das geht nicht mehr.
Aus der Politik gibt es aber andere Signale. Groß Lüsewitz beschäftigt sich auch mit biologischem Pflanzenschutz. Aber, so klagte Dr. Broer, für diese Forschung gibt es kein Geld.

Lesestoff:
Das AgroBioTechnikum in Groß Lüsewitz finden sie im Internet unter www.agrobiotechnikum.de
Eine Diskussion über die Rahmenbedingungen zur Biotechnologie in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt gibt es hier
Und das Scheitern der Koexistenz beklagte Kanadas berühmtester Ökobauer Percy Schmeiser in Berlin

Roland Krieg

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