GAP: Es gibt keine Tabus mehr
Landwirtschaft
Schon die nationalen Strategiepläne werden neu bewertet
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat drei Dimensionen. Zum einen entfallen Agrarexporte aus der Ukraine in die EU, zum anderen wirken sich die steigenden Preise in allen Bereichen auf das wirtschaftliche Leben insgesamt aus und vor allem die Länder des Mittleren Osten und Nordafrika (Mena-Region) erzeugen nicht genug Nahrungsmittel, sind auf die Importe aus der Schwarzmeerregion angewiesen, leiden, wie Marokko und Algerien unter einer aktuellen Dürre und geraten in eine Situation der Mangelernährung und Hungersnot, wie die FAO am Mittwoch mitteilte.
Die Versorgung ist nicht gefährdet
Für Landwirtschaft ist es nach Ulrike Müller von den europäischen Liberalen „nicht die Zeit, über die Kosten zu sprechen.“ Am Montag tagte der Agrarausschuss in Brüssel. Heute fand eine informelle Videositzung der Agrarminister statt, die sich besonders den Auswirkungen auf die Agrarmärkte widmeten. Es geht nicht nur um weiter steigende Betriebskosten, sondern um den Wegfall von Importen. Generell gilt, was Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir vor der Sitzung sagte: „Die Versorgung innerhalb der EU ist nicht gefährdet. Trotzdem halten wir die Auswirkungen auf die Agrarmärkte genau im Blick. Weltweit ist nicht zuletzt wegen der stark gestiegenen Energiekosten mit Preissteigerungen bei Agrarrohstoffen und bei Düngemitteln zu rechnen. In der Konsequenz können wir auch nicht ausschließen, dass das bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an der Supermarktkasse ankommt.“
Die Konsumenten rechnen seit dem Überfall auf die Ukraine mit steigenden Kosten, was sie direkt an den Preissäulen der Tankstellen ablesen können. Das Bundeswirtschaftsministerium hat am Mittwoch die Teilfreigabe der strategischen Ölreserve bekannt gegeben, um die Kraftstoffpreise einzufangen.
Tabu Green Deal
Im gleichen Aufschlag hat es in den letzten Tagen Forderungen von Bundespolitikern geben, die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zumindest auszusetzen, um die Nahrungsversorgung zu sichern. Wenn nicht auch gleich die ganze GAP von Extensivierungsmaßnahmen zu entschlacken sei.
Özdemir hat sich klar dazu geäußert: „Wer aber in dieser Situation fordert, erste Schritte der Europäischen Agrarpolitik hin zur Förderung einer klima- und umweltschonenden Landwirtschaft zurückzudrehen, dem will ich ganz deutlich machen, dass er hier auf dem Holzweg ist. Um das Recht auf Nahrung nachhaltig weltweit zu sichern, müssen wir die ökologischen Krisen entschieden bekämpfen.“
EU-Agrarministerrat
Doch so klar hat sich das Bild der europäischen Agrarminister nicht gezeigt. Julien Denormandie als Vorsitzender des Agrarrates berichtete am Mittwochabend über hohe Erwartungen der Agrarminister. Diese erklärten sich solidarisch mit den Ukrainern und wollen helfen, die Ernährungssicherhit und die Produktionskapazitäten vor Ort abzusichern. In zweiter Linie gehe es um die Ernährungssicherheit in der EU und in Zusammenarbeit mit der FAO sowie den G7- und G20-Ländern auch um die Nahrungsmittelsicherheit weltweit. Denormandie und EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski wollen zwischen kurzfristigen und mittel- bis langfristigen Maßnahmen unterscheiden.
Eigentlich war für den Mittwoch eine Kommissionsmitteilung über Maßnahmen gegen die gestiegenen Energiepreise für den Agrarsektor geplant. Doch hat sich seit Woche die Situation grundlegend geändert. Wojciechowski wird das in der nächsten Woche nachholen.
Genauso haben sich die grundlegenden Gedanken über die Landwirtschaft in Europa geändert. Alle Expertengruppen werden in der nächsten Woche für weitere Besprechungen zusammenkommen. Der nächste Agrarrat am 21. März wird Entscheidungen fällen, die bis dahin vorgelegt sein müssen.
Mehr Ernährungssouveränität
Tief unten im Glas locken die beiden Themen Ernährungssicherheit und Umwelt mit Klimaschutz. Die politische Lage stellt den fragilen Konsens vor neuen Überlegungen, deren Fazit noch gar nicht absehbar ist. Aber so wie es Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung im Bundestag sagte, wird es auch für die Landwirtschaft mit ihren Umwelt- und Klimamaßnehmen eine „Neubewertung“ geben. Und die fängt nach Wojciechowski schon bei der Bewertung der nationalen Strategiepläne für die GAP an (Bis auf Belgien haben mittlerweile alle Länder geliefert).
Wojciechowski ist Pole. Das Land ist nicht das einzige mit einem tiefen Misstrauen gegen Russland. Sowohl der Krieg als auch die „imperialistische Politik“, so Wojciechowski, halten Europa noch lange in Atem. Der Kommissar spricht sich für Sanktionen gegen Russland und Belarus aus, die weitere Übergriffe nicht mehr lohnenswert machen dürfen. Diese politische Perspektive geht über landwirtschaftliche Produktionszyklen weit hinaus.
Neben der aktuellen Aussaat im März haben die Bauern nur noch im Herbst eine zweite Möglichkeit, neue Kulturen in den Boden zu bringen. Daher haben offenbar mehrere Länder Anträge gestellt, geplante Brachflächen mit Ölsaaten zu bestellen. Es wird nach dem Ausfall von Futterimporten aus der Ukraine die Nutztierhalter stärker und direkter treffen als die Ackerbauern.
Kurzfristig hat sich der Kommissar bei der Ansicht über die private Lagerhaltung gewendet und wird diese mit Öffnen der Krisenreserve kurzfristig prüfen. Mehr Marktmaßnahmen sind in der aktuellen Gemeinsamen Marktordnung (GMO) nicht vorgesehen.
Die Neubewertung
Wer die diplomatische Sprach der EU versteht, erkannte am Mittwochabend zwischen den Zeilen viel weitreichender Perspektiven. Die kurzfristigen Maßnahmen gelten nur für das laufende Jahr. Die neue GAP beginnt erst am 01. Januar 2023. Doch der russische Überfall hat die Minister offenbar so tief getroffen, dass alles auf den Prüfstand kommt.
Julien Denormandie hat als Ratsvorsitzender von der Mehrheit der Minister gesprochen, die in der Landwirtschaft das Primat der Ernährungssicherheit als oberstes eingefordert haben. Die Konditionalisierung der Agrargelder der ersten Säule sind rechtlich gebunden. Wenn also die neue Stillegungspflicht ab dem 01. Januar 2023 auch weiterhin für die Produktion genutzt werden soll, bedarf es einer gesetzlichen Regelung. Je länger Krieg und Sanktionen wirken, desto weiter wird sich die Tür dafür öffnen.
Die beiden Strategien „From Farm-to-Fork“ (F2F)und die zu Biodiversität sind mehrheitlich politische Aussagen, die leichter korrigiert werden können. Denn, sowohl Denormandie als auch Wojciechowski wollen alle Ideen, Strategien und Pläne, die nicht rechtlich gebunden sind auf das Primat der europäischen Ernährungsautonomie überprüfen. So könnten Ausnahmeregelungen für die Pflicht zur Flächenstilllegung eingeführt werden.
Beide wollen aber keinen reinen Tisch machen und setzen weiter auf die Umwelt- und Klimaziele im Green Deal. Aber, so Wojciechowski, alle diese Ideen müssen auf die Ernährungssicherheit der EU und der Welt neu bewertet werden. Nach ihm dürfe der Ökolandbau auch mit einem geringeren Ertragsniveau wirtschaften, die Akteure müssten sich aber die Frage stellen, wie sie unter der Prämisse der Welternährung ihre Produktivität steigern können.
Präzisionslandwirtschaft und moderne Züchtungsmethoden gehören nach F2F dazu. Auf diese technologischen Lösungen verzichten zu wollen, wird nach diesem Agrarrat schwieriger. Denormandie ergänzte, dass Dürre und Futtermangel sowie Probleme beim Ackerbau mit Portugal, Spanien und Südfrankreich ebenfalls die EU erreicht haben. Spanien und Portugal hatten beim letzten Agrarrat Hilfen eingefordert.
Ernährungsautonomie und Umweltschutz müssen kein Widerspruch sein, sagte Denormandie. Aber derzeit stehen die Regler auf Verschiebung der Anteile.
Roland Krieg
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