Glyphosat-Chaos in der Koalition
Landwirtschaft
Palastrevolte im Verborgenen
Jede Regierung beginnt mit Schwung und klaren Worten. Im Zeitverlauf werden Sprechblasen größer als die parlamentarische Wirklichkeit. Sie erscheint „abgewirtschaftet“. Eine Selbstlähmung befällt die Akteure und die Zustimmung der Wähler schwindet. Der Countdown tickt schneller als geplant.
So hat das Bundesparlament am frühen Donnerstagabend eine äußerst lebhafte Debatte gezeigt, die abseits des Sachverhaltes tief in die Spalten der Koalition blicken ließ. Es ging um Glyphosat. Der Wirkstoff, der als Pflanzenschutzmittel zwischen „wahrscheinlich krebserregend“ „wahrscheinlich krebsgefährdend aber tolerierbar“ eingestuft wird. Erstes Urteil stammt von der Internationalen Krebsforschungsagentur der WHO IARC; zweites Urteil ist die Bewertung des Bundesinstituts für Risikobewertung für die EU. Die Basis für die Wiederzulassung des Wirkstoffes für 15 Jahre. Datum der Entscheidung auf EU-Ebene: Die Sitzung des Ständigen Ausschuss für Lebensmittelsicherheit SCPAFF am 18. und 19. Mai. Voraussetzung: Die Abstimmung der einzelnen Mitgliedsländer. Basis: Eine Entscheidung der Bundesregierung über ihr Stimmverhalten.
Folglich ging es gar nicht mehr um Glyphosat. Eine Einigung zum Thema war nicht zu erwarten. Aber es war der selbstzerstörerische Höhepunkt einer Koalitionswoche zum Thema Glyphosat, im weiteren Sinne auch zur Landwirtschaft und vielleicht …
Ressortabstimmung
Die letzte SCPAFF-Sitzung im März 2016 fand keine Mehrheit und vertagte sich. Deutschland hatte sich der Stimme enthalten. Das folgt in der Regel, sobald die Ressortabstimmung kein eindeutiges „Ja“ oder „Nein“ in der Regierungsmannschaft zu finden ist. Gegenspieler: „Ja“-Vertreter Christian Schmidt aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium und „Nein“-Vertreterin Barbara Hendricks aus dem Bundesumweltministerium. Seit dem sind über zwei Monate vergangen.
Am 03. Mai antwortete Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium Peter Bleser, dass der Bund sich offen für Einschränkungen zeigt, die an eine Wiederzulassung gebunden werden könnten. Dafür gebe es offenbar eine Mehrheit in der EU. Bis dahin war aber nur das Verbot der Sikkation zur Ernteharmonisierung des Bestandes gemeint.
Bundesumweltstaatsekretär Florian Pronold konkretisierte für seine Ressortchefin die Einschränkungen am 11. Mai: Die Zulassung soll „die Risiken für die Vielfalt und den Artenreichtum von terristrischen Nicht-Zielarthropoden und Wirbeltieren besonders berücksichtigen“. Das Umweltministerium schwenkte auf ein „Vielleicht, mit Bedingungen“ um – obwohl, so Pronold, der offizielle Kommissionsvorschlag keine neue Fassung in dieser Richtung aufweise. Also „eigentlich Nein“.
Am gleichen Tag holte Christian Schmidt Demonstranten in die Berliner Kalkscheune. Auf der Straße protestierten sie gegen Glyphosat. In der Kalkscheune fand der 3. Zukunftsdialog Agrar & Ernährung statt. Wie einst Fernsehmoderator Frank Elstner einen Demonstranten in der Show „Wetten das…“ persönlich zurückholte („Hier wird niemand rausgeschmissen“), um ihm sein Wort zu geben, stellte sich Schmidt der Demonstrantin. Sie fragte nach Schmidts Einstellung zu dem Kompromissvorschlag Hendricks. Er bleibe bei einem „Ja“ - falls die entsprechenden Einschränkungen eingeführt werden. Dazu gehören das Anwendungsverbot bei Privatleuten und Kommune sowie die Sikkation. Die Ressortabstimmung war nah.
Am Donnerstag allerdings blies 20-Prozent-Sigmar Gabriel zur Palastrevolution: Er stellte sich auf die „Nein-Seite“ seiner Parteikollegin Hendricks. Zweimal „Nein“ in der Regierung aus der SPD.
Rita Hagl-Kehl von den Sozialdemokraten begrüßte am Abend die Haltung der SPD-Minister im Parlament und bekam großen Applaus. Nur Wilhelm Priesmeier, agrarpolitischer Sprecher der Partei, erstarrte in seiner ersten Reihe und ließ die Hände unten. Hagl-Kehl dankte ausdrücklich Gabriel und Hendricks, dass sie „hart geblieben“ sind und hofft auf eine Einsicht des Landwirtschaftsministers.
Ingrid Pahlmann von der CDU allerdings kritisierte die Sozialdemokraten: „Ich habe kein Verständnis für die SPD, unreflektiert dem Mainstream gegen Glyphosat zu folgen.“
Zeit zur Beratung?
Das allerdings war nur der erste Akt. Nachdem die Positionen mittlerweile namentlich ausreichend bekannt sind und einer fehlenden gemeinsamen Ressortabstimmung in Brüssel eine „Enthaltung“ folgen müsste, beantragte Bündnis 90/Die Grünen eine sofortige Sachentscheidung. Die Koalition wollte den Antrag in den Ausschuss verweisen. Doch vor der Sitzung des SCPAFF findet nur noch die Kabinettssitzung am Mittwochmorgen statt. Britta Haßelmann (Bündnis 90/Die Grünen) beantragte nach Geschäftsordnung die sofortige Sachentscheidung, damit sich die Koalition „jetzt und hier im Parlament“ für das Abstimmungsverhalten in sechs Tagen öffentlich positioniert. Mit der Überweisung „versenke“ die Koalition ihr deutsches Abstimmungsverhalten auf die Zeit nach der Abstimmung in Brüssel. Sie traut dem Vertreter nicht, der nach der Kabinettssitzung gen Brüssel geschickt wird. Setzt sich allen Widrigkeiten Schmidt mit seinem „Ja, aber“ durch, wenn die Kommission irgendwelche unklaren Beschränkungen doch noch aus dem Hut zaubert? Oder reist der Vertreter entgegen der Aussage Schmidts in der Kalkscheune doch mit einer Enthaltung nach Brüssel?
Egal. Der Grünen-Antrag wurde in den Ausschuss überwiesen. Christine Lamprecht von der SPD begründete das mit dem Willen, sich Zeit zu nehmen, da es offenbar noch Beratungsbedarf gibt. Die Minister haben in der Koalition die Revolution ausgerufen, das Fußvolk bedeckt sich mit dem Mantel der Koalition. Die Deckung wird verlassen, wenn Brüssel entschieden hat.
Ja, nein, Enthaltung?
Und nächste Woche? Frankreichs Umweltministerin Ségolène Royal hat sich für „Nein“ ausgesprochen. Mit einer Enthaltung Deutschlands bleibt eine qualifizierte Mehrheit im SCPAFF weiterhin unwahrscheinlich. Dann entscheidet die Kommission. Statt 15 Jahre Wiederzulassung, hatte das Parlament auf sieben Jahre gesetzt. Die Kommission hat mit „zehn Jahre“ gekontert. Was auf dem politischen Basar der nächsten Woche herauskommt, ist offen.
So wenig die Bundesregierung für Klarheit im Fall Glyphosat gezeigt hat, lässt sie auch deutliche Worte zur Klage gegen das Bundesinstitut für Risikobewertung missen. Der ordnenden Hand der Politik ist das Ordnen abhanden gekommen.
Lesestoff:
EU-Parlament findet Kompromiss zu Glyphosat
Roland Krieg