„Hübsch! Aber hier leben…?“
Landwirtschaft
Demografischer Wandel und ländlicher Raum
Die Deutschen werden zwar immer älter, aber immer weniger und aus dem ländlichen Raum ziehen zudem noch die Menschen weg. Das Thema „Demografischer Wandel und ländlicher Raum“ ist nach Tabea Rößner, demografische Sprecherin von Bündnis90/Die Grünen, meist nur mit negativen Aspekten besetzt: „Wie deutschen sterben aus!“ Grund für die Partei vergangenen Freitag einen Fachkongress zum Thema abzuhalten.
Agrarzentrierte Sichtweise
Noch leben zwei Drittel der Deutschen auf dem Land, tragen
aber nur zu 57 Prozent der Wirtschaftskraft bei. Nicht nur in Ostdeutschland
gibt es Regionen, die nur noch wenige Bewohner je Quadratkilometer aufweisen.
Richtig prosperierend sind nach Cornelia Behm, Sprecherin für Ländliche Entwicklung,
fast nur noch die süddeutschen Regionen in Bayern und Baden-Württemberg. In
Norddeutschland gibt es bereits vereinzelt verarmte Regionen.
Das sei auch ein Ergebnis einer Fülle von
unterschiedlichen Förderprogrammen. Behm bezieht sich dabei auf eine Studie der
Landgesellschaften Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt vom August 2010,
die eine große Anzahl an Finanzinstrumenten und Förderprogrammen benennt und
untersuchte. Sie werden von der EU, dem Bund und Bundesländern zur Verfügung
gestellt. Gemeinden haben zudem eigene Programme aufgelegt. In der Summe sind
die Programme jedoch ineffizient und die Vielfalt unübersichtlich. Die
Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz in Deutschland sei viel zu
agrarzentriert, um den Bedürfnissen des ländlichen Raums entgegenzukommen.
Hoffnung hegt Cornelia Behm auf die EU-Reformvorschläge für die Gemeinsame
Agrarpolitik. Da seien Ansätze für Basisinstrumente im ländlichen Raum
vorhanden.
Abschied vom Artikel 72
Der Artikel 72 (2) im Grundgesetz verspricht die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum zur Stadt. Doch ist
es fraglich, ob das aufrecht erhalten werden kann. Dr. Claudia Neu, Sozialforscherin
an der Hochschule Niederrhein, meint, die Politik hat sich von dem Artikel
schon längst verabschiedet. Der öffentliche Nahverkehr besteht in manchen
Regionen nur auch aus Schülerbussen und Einkaufsmöglichkeiten sind nur noch in
den nächsten Städten zu finden. Dabei ist die flächendeckende Infrastruktur mehr
als nur die Daseinsvorsorge – sie bietet einem „geheimen Lehrplan“ gemäß
soziale und kulturelle Integration der Menschen mit ihrer Region. In diesem
Zusammenhang spiele die politische Fokussierung auf das ehrenamtliche
Engagement die Rolle der Ablösung von staatlichen Aufgaben. Die Bürger sollen
mit Fahrgemeinschaften beispielsweise Aufgaben übernehmen, die vormals eigenes
Interesse des Staates waren. Doch wollten die Bürger das? Nach Dr. Neu
hinterfragen die Menschen zunehmend die Aufgaben, für deren Ausführung sie
Steuern bezahlen. Im Gegenteil legte der Staat für die Durchführung des
bürgerlichen Engagements mit bürokratischen Vorschriften Hindernisse in den
Weg, wenn beispielsweise Personenbeförderungsscheine für den Seniorenverkehr
gefordert werden.
Grundsätzlich bräuchte der ländliche Raum neue Fragestellungen.
Nach Dr. Neu sei nicht entscheidend wie viele Schulen in einer Region vorhanden
sind, sondern wie viele Schüler Abitur machten.
Manche wollen – manche nicht
Offenbar gibt es Dörfer und Regionen die aktiver sind
als andere. Und eine „Zufriedenheit der Zurückgeblieben“, wie es in der
Diskussion hieß. Wer auf dem Land bleibt, will vielleicht gar nicht die gleichen
Segnungen wie in der Stadt verspüren und sucht andere Inhalte wie Natur und
Abgeschiedenheit. Ein Bäcker in jedem kleinen Dorf sei wirtschaftlicher Unsinn.
Gerade die „Best Ager“ suchen das Land. Ist eine Basisversorgung vorhanden,
dann docken auch jüngere Menschen an das Landleben an und pendeln in die Stadt
zur Arbeit. Die Breitbandversorgung des Landes steht dabei im Vordergrund. Sie
ist zwingende Voraussetzung sowohl für die Telemedizin, als auch für das
E-Learning, dass im australischen Outback eingesetzt wird – in Brandenburg aber
auf misstrauische Behörden stößt.
Dem gegenüber allerdings gibt es auf dem Land auch die „Gefangenen“,
die an Landwirtschaft und Eigentum gebunden sind. Bestehende Netzwerke für die
Belebung des ländlichen Raums werden oftmals von den aktiv aufs Land gezogenen
betrieben. Die Integration der „Gefangenen“ gelinge nicht immer, hieß es in der
Diskussion.
Offenbar beginnt der Verlust des Landes bereits in der Stadt.
Potsdam habe beispielsweise Einkaufszentrum gebaut, die Besucher aus Berlin
anziehen sollten, aber in Wirklich eher das Umland verödeten. Im gleichen Sinne
müsse auch die Produktion von Biomasse gesehen werden, die mit großen zentralen
Anlagen negativ auf den ländlichen Raum einwirkten. Es fehlt an einer
Kohärenzprüfung der Politik auf das ländliche Leben.
Neue Konzepte
Das Land braucht neue Konzepte wie die
Gemeindeschwester AGnES, die in Brandenburg eingeführt wurde. Die Abkürzung
steht für Artzentlastende, Gemeinde-nahe, E-Healthgestützte, Systemische
Intervention und überwindet die Trennung zwischen Arzt und Schwester, wie sie
in England und der DDR erfolgreich eingesetzt wird und wurde. So könne es nicht
sein, dass fünf verschiedene Pflegedienste in einem Dorf fünf Patienten
besuchen und dann ins nächste fahren. Kostengünstiger sei es, in einer Art Sozialraumorientierung
den Wettbewerb wieder ausschalten und andere Versorgungsnetze aufzubauen. Dann
bleibt mehr Zeit für die Patienten und werde nicht im Auto verbracht.
Ministerium für ländliche Entwicklung
Der ländliche Raum ist zu einer Querschnittsaufgabe
verschiedenster Ressorts geworden. Herd-und-Hof.de fragte Cornelia Behm, ob es
nicht Zeit für ein eigenes Ministerium wäre. Das Beispiel Baden-Württemberg
zeige, so Behm, dass durch eine Bündelung der Aufgaben wichtige Impulse
ausgehen können. Von der Sache her wäre das gut. Zudem ist die Gemeinschaftsaufgabe
Agrarstruktur und Küstenschutz zu agrarzentriert.
Derzeit beobachte Behm, dass die Bauernverbände
Landwirte zu LEADER-Veranstaltungen entsenden, um Geld für neue Projekte zu
beantragen. Nur, damit nicht den Dorfgemeinschaften das ganze Geld zugesprochen
werde.
Soziale Aufgaben
Die bäuerliche Agrarstruktur beansprucht genauso wie
die Großbetriebe in Ostdeutschland Dienste an der Sozialstruktur des ländlichen
Raums. Darauf angesprochen verweist Cornelia Behm jedoch auf die qualitativen
Unterschiede. Die großen Betriebe hätten nichts mit den regional angepassten
Strukturen zu tun. Sie vereinnahmten Flächen von mehreren Dörfern und in
einzelnen davon finde nichts mehr statt. Alte LPG-Gebäude verfallen. Die großen
Betriebe haben keine Arbeitsplatzeffekte und keine Wirkungen auf die
Kulturpflanzenvielfalt. Ziel der außer-landwirtschaftlichen Investoren ist die
Gewinnmaximierung. Daher begrüßte Behm die vorgesehene Deckelung der
Großbetriebe bei der Direktzahlung. Sie können sich durch Umwelt- und Naturschutzleistungen
mehr Geld erarbeiten. Doch beim vorgesehenen Arbeitskräftebesatz müssten
kalkulatorische Arbeitskraftangaben berücksichtigt werden und die Zahl der
angemeldeten, die möglicherweise nur sechs Monate lang auf dem Betrieb arbeiten.
Es gebe aber, so Behm, auch positive Beispiele, die auf ihrer Genossenschaft
einen eigenen Landladen haben und Kochgemeinschaften für Besucher haben.
Lesestoff:
Ein Protokoll der Tagung wird auf der Seite der Bündnisgrünen
veröffentlicht: www.gruene-bundestag.de
Die Studie der Landgesellschaften MV und ST „Maßnahmen
von Bund und neuen Ländern für eine abgestimmte Politik in ländlichen Regionen
unter dem Aspekt des demografischen Wandels“ finden Sie beispielsweise auf der
Seite www.lgmv.de als PDF
Vor einigen Jahren lud das Bundeslandwirtschaftsministerium
zu einer Reihe von Tagungen über den ländlichen Raum. Den Abschlussbericht mit
weiterführenden Links zu einem Teil der Tagungen finden sie hier
Dr. Claudia Neu hatte 2007 in der Studie „Daseinsvorsorge
im peripheren Raum“ ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern untersucht