Landwirtschaft: Von der Tret- in die Zwickmühle
Landwirtschaft
Landwirtschaft zwischen Klima, Produktion und Gesellschaft
Rund 130 Jahre lang befand sich die Landwirtschaft in einer Tretmühle. Seit den 1870er Jahren haben die Bauern ständig mehr Nahrungsmittel produziert und bis zum Jahr 2000 wurden sie für den Verbraucher immer erschwinglicher. Der Anteil des Budgets für Lebensmittelausgaben sank zuletzt auf rund 14 Prozent [1]. Die Bauern haben mit technischem Fortschritt, wie dem Einsatz der mineralischen Stickstoffdüngung, die Erträge auf ein hohes Niveau gebracht, dass letztlich in Butterbergen und Milchseen endete. Das Problem: Effizienzgewinne in der Produktivität mit steigenden Erträgen trafen auf eine stagnierende Nachfrage. Die Bauern müssen mit sinkenden Erzeugererlösen wirtschaften.
Rahmenbedingungen ändern sich
Doch seit gut einem Jahrzehnt verändern sich die Rahmenbedingungen dramatisch. Prof. Dr. Dr. Harald von Witzke, Agrarökonom an der Humboldt Universität Berlin, erklärte am Mittwoch auf dem 1. Berliner Nachhaltigkeitsforum von der Fördergemeinschaft Nachhaltige Landwirtschaft (FNL) und des Deutschen Raiffeisenverbandes (DRV), was auf die Landwirtschaft zukommt.
Die neuesten Zahlen sagen zehn Milliarden Menschen für das Jahr 2050 voraus. Mit steigendem pro-Kopf-Einkommen verzehren die Menschen nicht nur mengenmäßig mehr, sondern auch mehr tierische Produkte, für die mehr Futterfläche zur Verfügung gestellt werden muss. Doch die Ackerfläche ist begrenzt. Bis zum Jahr 2020 werde die Menschheit lediglich sieben Prozent mehr Ackerfläche erschließen können. Zudem hat die grüne Revolution ab den 1960er Jahren zwar eine Produktivitätssteigerung von jährlich vier Prozent hervorgebracht, doch seitdem ist sie auf ein Prozent, in der EU sogar auf 0,6 Prozent gesunken.
Weniger Nachschub bei steigender Nachfrage: Die Lebensmittelpreise werden steigen. Prof. Witzke hatte schon mal Preissteigerungen bei den wichtigsten Nahrungspflanzen auf 15 bis 30 Prozent berechnet. Nach Einbeziehung der Bioenergie und vor allem des von 40 auf 100 US-Dollar gestiegen Ölpreises zeigt eine neue Dimension. Aktuell prognostiziert der Berliner Agrarökonom ein Preisniveau, das um 50 bis 100 Prozent über dem heutigen liegt.
Prof. Witzke weiß auch, wen es am meisten trifft: Die Menschen, denen weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zur Verfügung stehen und die zwischen 50 und 80 Prozent ihres Geldes für Lebensmittel ausgeben müssen. Die Least Developed Countries (LDC) [2], die vor einigen Jahrzehnten noch Nettoexporteur landwirtschaftlicher Rohstoffe waren, werden ihren Importbedarf von Nahrungsgütern verfünffachen.
Die Zwickmühle besteht in der Herausforderung, die notwendige Steigerung der Produktivität innerhalb der Grenzen der natürlichen Ressourcen zu halten.
Der Beitrag Europas
Die EU ist an der Verschärfung der Herausforderungen nicht unschuldig. Die EU ist zum größten Importeur von Agrargütern geworden und liegt mit 173 Milliarden US-Dollar deutlich vor den USA (115 Mrd. US-Dollar). Die EU importiert auch deutlich mehr, als sie exportiert. Das 45,5 Milliarden US-Dollar Nettoimportvolumen hat Prof. Witzke auf 35 Millionen Hektar Land umgerechnet, die für diesen Bedarf von Drittländern zur Verfügung gestellt werden müssen. Alleine zwischen 1999 und 2008 ist der virtuelle Flächenbedarf der EU um neun Millionen Hektar gewachsen.
Zum Vergleich: Die sieben Prozent zusätzliche Ackerfläche, die weltweit bis 2020 hinzukommen könnte, umfasst rund 80 Millionen Hektar. Die Hälfte würde Südamerika beisteuern.
Prof. Witzkes Lösung aus der Zwickmühle ist die steigende Produktivität der landwirtschaftlichen Produktion. Doch es gibt auch andere Vorschläge: Die ökologische Intensivierung des Landbaus und die Veränderung der Konsumgewohnheiten, vor allem des Fleischverzehrs. Gegenüber Herd-und-Hof.de spielt Prof. Witzke die Alternativen schnell durch: „Es wird sich nichts verändern!“ Selbst wenn Europa nichts mehr konsumieren und nichts mehr importieren wird – das Bevölkerungs- und Nachfragewachstum findet in den Entwicklungs- und Schwellenländern statt [3].
Welche Landwirtschaft wollen die Deutschen?
Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer der TNS Emnid Medien- und Sozialforschung, beschreibt die deutsche Befindlichkeiten zum Thema. In den letzten Jahren hat sich die Grundstimmung in der deutschen Bevölkerung in eine pessimistischen gewandelt. Firmen werden stärker in die Sozialverantwortung genommen und die Wertigkeit der Natur hat an Priorität gewonnen.
Die Menschen empfinden den Alltag als ein immer komplexer werdendes Beziehungsgeflecht und verlören das Interesse, weil Kenntnis und Verständnis fehlen. So auch für die Landwirtschaft. Doch rückt diese gerade rechtzeitig in den Mittelpunkt, weil die Bevölkerung mit der bäuerlichen Arbeit Lebensqualität, Bewahrung der Kultur und Versorgung mit Nahrungsmitteln verbindet.
Nach Schöppner taugt die Landwirtschaft als Brennpunkt für verlorene Sehnsüchte: Das Interesse an der Landwirtschaft steigt, die Menschen sorgen sich um den Umgang mit Tieren, die Schonung der Ressourcen und der Qualität der Lebensmittel. Die Menschen übertragen das Feindbild Multinationaler Konzern und das Leitbild Mittelstand auf die Agrarstrukturen. Schöppe hat bemerkt, dass die Deutschen die Vorsilbe „ver“ durch „fair“ ersetzt haben. So muss die Landwirtschaft „fairhandeln“, sich „fairbessern“, Güter und Ressourcen „fairteilen“ und Gründe für ein „fairtrauen“ liefern. Die Landwirtschaft braucht einen „Fairtrag“ mit der Gesellschaft.
Das sind zusätzliche Anforderungen an die Landwirtschaft in der Zwickmühle.
Manfred Nüssel, Präsident des DRV, kritisiert jedoch zu einfache Forderungen, die dem Komplex der Nachhaltigkeit alleine nicht gerecht würden. Mit Blick auf die Aufgaben der Landwirtschaft führten das „Greening“ der EU-Kommission sowie Forderungen nach einem Verzicht auf Futtermittelimporte nicht zu einem Ausgleich aller Interessen. Nüssel verwahrte sich auch gegen Darstellungen der Ökoverbände, die Nachhaltigkeit als Alleinstellungsmerkmal beanspruchen.
Lesestoff:
[1] Lebensmittel werden immer erschwinglicher
[3] Bevölkerungszuwachs in den Entwicklungsländern
Ökolandbau muss die Welt ernähren: Herbsttagung des BÖLW
Roland Krieg