Mehrfachrückstände von PSM in Lebensmittel
Landwirtschaft
Forum Verbraucherschutz des BfR
>Gerade im Herbst und Winter will der Mensch Vitamine, Mineralstoffe und abwechslungsreiche Kost. Ein Teller voller Obst und heimisches Wintergemüse sorgen zwar für reichliche Vielfalt, aber Pressemeldungen von Pestiziden, Insektiziden, Fungiziden oder Akariziden, Molluskiziden u.ä. verderben den Appetit. Mittlerweile reicht es nicht mehr aus, dass ein Pestizid in der Nahrung bleibt, sondern Mehrfachrückstände machen die Runde. Fast erscheint es, dass jede neue Schlagzeile nur noch an den Allgemeinzustand unserer Lebensmittel erinnert und die Verbraucher sind resigniert verunsichert: "Was kann man denn noch essen"?Rund 250 Wirkstoffe sind in Europa zugelassen, die in etwa 900 Präparaten Anwendung finden. Hier werden mit Pflanzenschutzmitteln 5,5 Milliarden Euro umgesetzt, wobei Herbizide gegen Unkräuter und Fungizide gegen Pilze mit jeweils über zwei Milliarden ? 78 Prozent Marktanteil ausmachen. In Europa arbeiten mehr als 30.000 Menschen bei den Herstellern von Pflanzenschutzmittel (PSM), davon ein Drittel in der Forschung, und weitere 20.000 im Pflanzenschutz-Handel.
BfR - Forum über ein brisantes Thema
Ein Drittel aller Proben weist mehr als einen Rückstandsstoff auf. In Extremfällen gelangen sogar 17 verschiedene Wirkstoffe auf den Teller, so Prof. Dr. Dr. Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zu Beginn des Verbraucherforums am 09. und 10. November in Berlin Marienfelde. Das brisante Thema ist äußerst komplex: Hensel stellte die Aufgabe zu klären, ob denn alle PSM unsachgemäß und unvorsichtig angewendet werden, ob denn die kleinsten Mengen schon per se ungesund sein müssen, ob denn PSM nicht allgemein den Ertrag und Qualität der Lebensmittel sichern und ob Nichtregierungsorganisationen (NRO) mit dem Vorwurf recht haben, dass nicht alle Wirkungen von PSM-Mischungen erforscht seien.
Was sind Mehrfachrückstände?
Der Begriff beschreibt mehr, als es die Summe verschiedener PSM vermuten lässt. Dr. Ursula Banasiak vom BfR bezeichnet als "single lot" ein rohes Lebensmittel, wie beispielsweise die Mohrrübe, das verschiedene PSM enthalten kann. Im Einkaufskorb aber landen verschiedene Lebensmittel aus denen Mahlzeiten zubereitet werden, die teilweise roh und teilweise verarbeitet verzehrt werden. Die PSM-Mischung in einer Mohrrübe gilt als "primary cocktail" und eine Mahlzeit aus verschiedenen Erzeugnissen mit mehreren PSM-Mischungen gilt als "secondary cocktail". Dabei macht es jedoch einen Unterschied, ob der Verbraucher ein Pfund Weintrauben auf einmal isst oder sich die Menge auf drei Tage verteilt. Die Experten unterscheiden dabei von der Exposition, der Aufnahmemenge der Pestizide, und dem Risiko, also der Gefährlichkeit des Wirkstoffes.
Bei der Expositionsabschätzung ist die Aufnahmemenge innerhalb eines Zeitabschnittes über die Einwirkdauer entscheidend und wer sich exponiert: Sind es Kinder in verschiedenen Altersklassen und Gewichten oder Erwachsene? Dazu wird aktuell eine zweite nationale Verzehrsstudie erstellt, die ein Zusatzmodul für Kinder bekommen hat, weil es für 5 bis 14jährige Altersklassen noch keine Daten gibt (www.was-esse-ich.de).
Bei der Toxizität gilt nach Dr. Banasiak das Bewertungsprinzip, dass Stoffe mit unterschiedlichen Wirkmechanismen unabhängig voneinander wirken und daher als Einzelstoff bewertet werden können. Die Giftigkeit wird im Verhältnis zu einer Bezugssubstanz ermittelt. Daraus leitet sich die Risikobewertung ab, dass die Aufnahme eines Rückstandes der Quotient aus Rückstandskonzentration und Verzehr im Verhältnis zur Körpermasse ist. Vorhergesagt wird das Risiko mit einem festgesetzten Endpunkt, wie beispielsweise der zulässigen täglichen Aufnahmemenge (Acceptable Daily Intake - ADI) oder der akut gefährlichen Referenzdosis (Acute Reference Dose - ARfD). Diese Werte werden in mg pro Kilogramm Körpergewicht angegeben. Allerdings sind die Werte nicht einheitlich: In den USA gibt es seit 2000 einen ARfD-Wert für die Bezugssubstanz Acephat auf Tierbasis von 0,005 mg/kg Gewicht, während die Weltgesundheitsorganisation WHO seit 2005 den Wert auf Basis des menschlichen Körpers mit 0,1 mg/kg angibt. Der Unterschied liegt im Faktor 20.
Treffen mehrere PSM, aber auch generell alle chemischen Stoffe, zusammen, dann kann es verschiedene Effekte haben: Die Wirkung kann Additiv sein, d.h. der kombinierte Effekt ist gleich der Summe der Einzeleffekte. Die Wirkung kann Überadditiv sein, was auch als Synergismus bezeichnet wird, wenn die Kombiwirkung größer als die Summe der Einzeleffekte ist und wenn die Gesamtwirkung kleiner als die Summe ist, dann ist der Cocktail Unteradditiv (antagonistisch).
Dr. Wolfgang Lingk hat sich in seiner aktiven Wissenschaftlerzeit besonders der Mehrfachproblematik gewidmet. Zur Abschätzung von Kombiwirkungen gibt es bereits mehrere Ansätze, die eine Risikobewertung erlauten. Bei der "hazard index"-Methode werden die anteiligen Ausschöpfungsraten der jeweiligen tolerablen Dosen von Wirkstoffen addiert. So ist eine kritische Schwelle für ein Lebensmittel erreicht, wenn drei Stoffe ihre tolerable Dosis zu jeweils einem Drittel ausgeschöpft haben. Allerdings gibt es dafür keine Begründung im engeren wissenschaftlichen Verständnis, so Dr. Lingk. Bei polychlorierten Dibenzodioxine hat sich die Toxizitätsäquivalent-Methode durchgesetzt und es gibt bei einigen Stoffen Wirkungsabschätzungen auf Studienbasis. Aber: Mischungsverhältnisse ändern sich und Wechselwirkungen sind nicht auf Pestizide beschränkt. Tier- und Human-Arzneimittel können in Verbindung mit PSM genauso reagieren wie Nikotin, Alkohol oder Feinstaub. Einer Summenregelung wies 1990 die Bundesregierung zurück, "weil dies wegen der damit verbundenen Unterschreitung zahlreicher EG-Höchstmengen zu einem Verstoß gegen geltendes EG-Recht führen würde, ohne dass für eine derart weitreichende mit Handelshemmnissen verbundene Maßnahme eine tragfähige gesundheitliche Begründung gegeben werden könnte." (Drucksache 11/7662 des Deutschen Bundestages am 10.08.1990 auf eine entsprechende Große Anfrage).
Die Wissenschaft wird mit Messergebnissen kaum hinterherkommen, denn Stoffe mit gleicher chemischer Gruppenzugehörigkeit und ähnlicher Wirkungsqualität können Unterschiede im Wirkungsmechanismus aufweisen. Dr. Lingk: "Für die vom Bundesrat geforderte umfassende Bewertung der Mehrfachrückstände von Pflanzenschutzmitteln gibt es - von der Gruppe er Organophosphate und Carbamate abgesehen - derzeit kein kurzfristig umsetzbares Konzept, weil die Definition von Stoffgruppen mit gleichem Wirkungsmechanismus noch eine grundlegende wissenschaftliche Diskussion erfordert." Gegenstand der Diskussion solle nicht die Frage sein, ob additive oder überadditive Effekte auftreten, "sondern, ob derartige Effekte groß genug sind, um berücksichtigt zu werden." Stoffe die sich in der Nahrungskette anreichern und irreversible Effekte verursachen, wie beispielsweise DDT, sollen hingegen restriktiv gehandhabt werden. Festgelegte Höchstmengen haben zwei- bis dreistellige Sicherheitsspannen, weswegen aus additiven oder synergistischen Effekten keine gesundheitlichen Gefährdungen ausgehen.
Warum gibt es überhaupt Mehrfachrückstände?
Dr. Karsten Hohgardt vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zeigte die Ausgangslage: Im Jahr 2003 wurden 12.874 Proben von 140 Lebensmitteln auf über 600 Stoffe untersucht. In jeder Dritten Probe fanden sich mehr als ein PSM. 99 Proben wiesen 7 PSM auf, 39 Proben 9 PSM und 28 Proben mehr als 10 PSM. Tafelweintrauben, Paprika und Erdbeeren schnitten am schlechtesten ab. Die Ursachen sind zahlreich.
Während der Vegetationsperiode treten verschiedene Schadorganismen und Krankheiten auf, die durch den Einsatz verschiedener Schadstoffe bekämpft werden müssen. So finden sich fast schon zwangsläufig Herbizide, Fungizide und Insektizide in einer Frucht. Da man die ehemals breitenwirksamen PSM heute aus naturschutzrechtlichen Gründen nicht mehr einsetzt, setzen die Bauern heute mehrere spezifisch wirksamen Stoffe ein, die Nützlinge schonen, aber eben auch verschiedene Wirkstoffe enthalten. Um dem Schädling nicht die Chance zu geben, sich mit Resistenzen gegen das PSM zu wehren, müssen die Bauern öfters das Mittel wechseln.
Rückstände können aber auch auf seltsamen Wegen in die Lebensmittel gelangen. italienische Tafeltauben, die den Wirkstoff Dichlorvos aufwiesen, wurden wahrscheinlich in einer Getreidehalle zwischengelagert, wo der Wirkstoff erlaubterweise eingesetzt werden darf.
Rückstandsmengen von 0,001 mg/kg sind zudem vor zehn Jahren analytisch noch gar nicht nachweisbar gewesen. Die alten Gaschromatographen werden heute fast überall mit effektiven Flüssigkeitschromatographen zum Nachweis von Wirkstoffen ersetzt und finden nun neue Ergebnisse.
Proben für die Analysen werden zudem meist im Großhandel gezogen, so dass oft genug eine Mischprobe von verschiedenen Betrieben vorliegt. Damit, so Dr. Hohgardt, zeigen Rückstände nur die unterschiedliche Erfahrung und Praxis der einzelnen Erzeuger an. Für den Verbraucher allerdings ist das wenig relevant, denn die drei verschiedenen Paprika in eine Tüte stammen allermeist von drei verschiedenen Betrieben. So hat der Verbraucher keine Chance mehr auszuwählen.
Das Chemische Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart (CVUA) hat sich einmal die Mühe gemacht und aus einer Probe zehn Paprika einzeln zu untersuchen. Die Paprika kamen von sechs Betrieben und wiesen alle verschiedne Rückstandsmuster gegenüber der Mischprobe auf. Einige Einzelgemüse hatten Rückstände, die in der Gesamtprobe gar nicht mehr auftraten.
Das Argument, dass Bauern zu viel und falsch spritzen gilt in Einzelfällen allerdings auch.
Beispiel Kartoffel
In Deutschland werden auf 284.000 Hektar Kartoffeln (zwei Prozent der Ackerfläche Kartoffeln angebaut. Durchschnittlich werden 410 dt/ha geerntet, was allerdings gegen Blattläuse, Kartoffelkäfer oder Kraut- und Knollenfäule verteidigt werden will. Dr. Peter Zwerger von der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA) zeigte, was bei Kartoffeln gespritzt werden kann. Die Pflanzgutbehandlung beginnt gegen den Silberschorf, wird auf dem Feld gegen Nematoden und Unkräuter fortgesetzt. Nach den ersten Blättern könnten Mittel gegen Schnecken eingesetzt werden, danach Insektizide gegen Blattläuse und Kartoffelkäfer, Fungizide gegen die Krautfäule und zum Ende folgt ein Herbizid zur Krautabtötung. Damit die Kartoffel nicht nach der Ernte keimt kann ein Wachstumsregulator den Mitteleinsatz abschließen. Damit steht die Kartoffel mit durchschnittlich 8,56 Maßnahmen weit an der Spitze der Ackerbaukulturen. Die Anzahl der Maßnahmen wird mit der gewichteten Wirkstoffmenge so als normierter Behandlungsindex ermittelt. Der nachhaltige Schutz der Kulturpflanze könne nur durch Mehrfachbehandlungen sicher gestellt werden, so Dr. Zwergers Fazit.
Was die Verbraucherschützer dazu sagen und welche philosophischen Lösungen es gibt, steht morgen im zweiten Teil des Tagungsberichts.
Roland Krieg