Mit 55 fängt das Leben an

Landwirtschaft

„Fit for Fifty-five“

Im Jahr 1977 sang Udo Jürgens das Lied „Mit 66 Jahren“. Da fange das Leben erst an. Einen vergleichbaren Mutmacher hat die EU-Kommission am Mittwochabend vorgestellt: „Fit for 55“. Hier geht es allerdings nicht um eine Jahreszahl, sondern um das Reduktionsziel 55 Prozent, um die bis 2030 die Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 sinken sollen. Die Umweltorganisationen werden den Text von Udo Jürgens schon umgedichtet haben. Andere sind sich da nicht so sicher.

Neuausrichtung

Bei der Zahl 55 geht es um nichts Geringeres als die Neuausrichtung der Wirtschaft und Gesellschaft in der EU. Ein paar Elektroautos mehr, eine Vervierfachung der Vegetarier, das Tempo beim Ersatz fossiler Brennstoffe im Gebäudebestand – das wird alles in den verbleibenden achteinhalb Jahren ohne eine erhebliche Forcierung kaum gelingen. Zudem müsse die Transformation sozialverträglich sein, wie EU-Vizepräsident Frans Timmermans am Mittwochabend im Umweltausschuss betonte. Hintergrund für das Ziel „Fit für 55“ ist der Green Deal, den die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende 2019 vorgestellt hat [1]. Alle seriösen Parteien und Organisationen sind sich im Ziel einig – dafür wird über das Tempo der Umstellung auf das Heftigste gestritten. Und natürlich ist der Beitrag eines Einzelnen Menschen oder eines Staates im globalen Maßstab nur ein Teil, oder gar nur ein Mosaiksteinchen, aber ohne die Gesamtheit aller, wiegt ein Sack Reis deutlich mehr als ein einzelnes Reiskorn [2]. Die Summe macht´s. Aber wer ist dabei?

Frans Timmermans formulierte es so: „Dieses ist die alles entscheidende Dekade im Kampf gegen die Klima- und die Biodiversitätskrise. Die Europäische Union hat ehrgeizige Ziele gesteckt, und heute legen wir Vorschläge vor, wie wir sie erreichen können. Der Weg zu einer grünen und gesunden Zukunft für alle erfordert erhebliche Anstrengungen in allen Sektoren und in allen Mitgliedstaaten. Zusammen werden unsere Vorschläge Ansporn für die notwendigen Veränderungen sein, allen Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile von Klimaschutzmaßnahmen so rasch wie möglich erschließen und die sozial schwächsten Haushalte unterstützen. Europas Übergang wird fair, grün und wettbewerbsfähig sein.“

Der Weg

Das umfassende Paket hat am Mittwochabend ein Gesicht bekommen. Die Rolle des Emissionshandels soll für seine Wirkung verstärkt werden. Die kostenfreien Emissionszertifikate für den Luftverkehr sollen schrittweise auslaufen und für den Straßenverkehr und den Gebäudesektor wird ein neues System für die Brennstoff- und  Treibstoffversorgung eingeführt. Einnahmen aus dem Emissionshandel sollen zur Abfederung sozialer Auswirkungen auf sozial schwächere Privathaushalte, Kleinstunternehmer und Verkehrsteilnehmer ausgegeben werden. Neue und strengere Reduktionsvorgaben für Gebäude, Verkehr und Landwirtschaft werden den Mitgliedsstaaten nach Größe des Bruttosozialprodukts und der Kosteneffizienz vorgegeben.

Gestärkt wird die Senkenfunktion, denn für das Entfernen des CO2 sind ebenfalls die Mitgliedsländer verantwortlich. Bis 2030 sollen natürliche Senken für 310 Millionen Tonnen geschaffen werden. Forst- und Landwortschaft sollen bis dahin klimaneutral sein und für die forstbasierte Biomasse sollen drei Milliarden Bäume gepflanzt werden.

Der größte Emissionstreiber ist die Erzeugung und Nutzung von Energie. Daher soll bis 2030 der Anteil der erneuerbaren Energien auf 40 Prozent erhöht werden.

Das nächste große Thema ist die Besteuerung für den Schutz des klimaneutralen Binnenmarktes. Die Energiebesteuerungsrichtlinie wird dafür überarbeitet und zwischen den Mitgliedsstaaten harmonisiert. Dazu gehört ein Grenzausgleichssystem, bei dem die Einfuhr von Produkten mit einer CO2-Steuer belegt werden. Damit könne die EU über den Handel seine Vorreiterrolle auf die Handelspartner ausdehnen.

Die Kommission verweist auf die mittel- bis langfristigen Vorteile der Klima- und Umweltpolitik, die den Kostenaufwand übersteige. Aus einem neuen Klima-Sozialfonds sollen für die Zeit von 2025 bis 2032 rund 72,5 Milliarden Euro für die Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt. Der wird aus den Einnahmen des Emissionshandels gespeist. In Brüssel heißt es: „Wenn wir das politische Instrumentarium einsetzen, über das wir auf der EU-Ebene verfügen, können wir dafür sorgen, dass der Wandel schnell genug vorankommt, aber gleichzeitig keine zu großen Störungen verursacht.“

EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski sagte: „Wälder sind von grundlegender Bedeutung im Kampf gegen den Klimawandel. Sie schaffen auch Arbeitsplätze und sorgen für Wachstum im ländlichen Raum, und sie liefern nachhaltige Ausgangsstoffe für die Biowirtschaft sowie Ökosystemdienstleistungen für unsere Gesellschaft. Die Waldstrategie geht die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte ganzheitlich an und soll die Multifunktionalität unserer Wälder gewährleisten und fördern.“

Die Reaktionen

Die Kommission habe die Zielrichtung klar formuliert, aber wie der Weg in der Land- und Forstwirtschaft umzusetzen sei, ist weniger klar. Der gemeinsame Verband europäischer Bauern und Genossenschaften (Copa Cogeca) sieht Land- und Forstwirtschaft in zentraler Stelle der Klimapolitik. Sie stehen im Zusammenhang der indirekten Landnutzungsänderungen, der Direktive für erneuerbare Energien (RED II), beim Emissionshandel und beim Grenzhandel. Positiv sei allerdings der strenge Fokus auf den gemeinsamen Binnenmarkt. Für die Senkenfunktion brauche es neue Geschäftsmodelle mit und für die Land- und Forstwirte. Der Agrarsektor ist beim CO2-Grenzausglcieh zwar ausgenommen – aber nicht so Betriebsmittel, wie Dünger. Damit würden die europäischen Landwirte doppelt bestraft.

Diese Kritik hat auch der Deutsche Bauernverband (DBV) geäußert Präsident Joachim Rukwied:  „Damit die hiesige Landwirtschaft mit ihren hohen EU-Standards im Markt bestehen kann, ist ein Klimaschutz-Grenzausgleich auch für Agrarimporte notwendig. Die EU muss ein geeignetes Verfahren einführen, um eine Abwanderung der landwirtschaftlichen Erzeugung aus der EU, einen sogenannten Leakage-Effekt, zu verhindern. Die geplante Einbeziehung von Stickstoffdünger in den CO2-Grenzausgleich bedeutet voraussichtlich höhere Preise für Düngemittel in der EU im Vergleich zu internationalen Wettbewerbern.“

Die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, will sich das Papier noch einmal genauer ansehen, denn der „Klimaschutz ist im Sinne unserer Land- und Forstwirtschaft, die unter den Auswirkungen leidet.“ Das Brüsseler Tempo müsse sich aber an biologischen Prozessen orientieren und die Praktiker einbeziehen.

Für den Verband Familienbetriebe Land und Forst ist das Konzept ein „falscher Weg für die europäische Forstwirtschaft“. Die Zielvorgaben missbrauchen den Wald als CO2-Speicher für andere Sektoren, kritisierte der Vorsitzende Max von Elverfeldt. Zudem bliebe „das Potenzial des Waldes als Lieferant von klimafreundlichen Holzprodukten ungenutzt.“ Die Forstpolitik hat sich bislang gegen eine gemeinsame Strategie auf EU-Ebene gewehrt. Brüssel berücksichtigt selbst bei seiner Waldpolitik die nationalen Hoheiten. Nach von Elverfeldt kehre das vorgelegte Konzept das Kompetenzgefüge um. Brüssel will erstmals gemeinsame Bewirtschaftungspläne einführen und verstoße gegen das Subsidiaritätsprinzip.

Ganz anders argumentiert Michael Ebling, Vorsitzender im Verband kommunaler Unternehmen (VKU): „Die Kommission gibt die Leitplanken für einen sehr viel ambitionierteren Klimaschutz vor, der auch notwendig ist. Ich bin optimistisch, dass wir in wenigen Jahren rückblickend sagen können, das war ein gelungener Start und Instrumentenmix, der Europa auf das richtige Gleis gesetzt und eine spürbare Zeitenwende für uns alle eingeläutet hat. Die konsequente Ausweitung des CO2-Handels als Taktgeber für mehr Klimaschutz und damit mehr Dekarbonisierung ist richtig. Verbesserungspotenzial sehen die Stadtwerke insbesondere im Wärmebereich und bei der Elektromobilität. Denn Klimaschutz wird vor Ort umgesetzt. Hier müssen die passgenauen Instrumente ankommen, akzeptiert werden und funktionieren, hier zeigt sich der „proof of concept“.

Als „wegweisendes Paket“ bezeichnet Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation germanwatch, die Veröffentlichung. Er fordert allerdings verbindliche Zwischenziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und generell einen „Garantiemechanismus zum Umsetzen der Klimaziele“. Bals hat vor allem die Verringerung der Senkenfunktion von Wälder durch die Dürren im Blick. Was dort ausfalle, müsse in anderen Sektoren durch schärfere Minderungsziele ausgeglichen werden.

Lesestoff:

„Fit for 55“ finden Sie hier: https://ec.europa.eu/info/files/communication-fit-55-delivering-eus-2030-climate-target-way-climate-neutrality_en

[1] Die grüne Zukunft der EU: https://herd-und-hof.de/landwirtschaft-/green-deal.html

[2] Ein Reiskorn wiegt nichts, aber ein ganzer Sack voller Reiskörner ist schwer zu tragen. Dieser Satz wird Buddha zugeschrieben. In der Tat: Ein Reiskorn wiegt nur 65 Milligramm. Im Endkundenhandel wird Reis in 20 bis 25 kg schweren Säcken verkauft.

Roland Krieg

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