Ötzis Funktionskleidung
Landwirtschaft
Die Grenzen von Leder und Fellen
Während heute überwiegend modische Überlegungen die Kleidungsauswahl bestimmen, standen den Steinzeitmenschen überhaupt nur wenige Materialien zur Auswahl. Vor Baumwolle, Leinen oder Hanf trug die Ötzi genannte Gletscherleiche vom Tisenjoch in den Ötztaler Alpen einen Grasmantel. Jedoch haben die Menschen der Jungsteinzeit überwiegend Kleidung tierischen Ursprungs getragen: Felle und Leder.
Wie sich diese Kleidung im Tragekomfort gegenüber der heutigen Kleidung behauptet haben Bekleidungsphysiologen an den Hohensteiner Instituten in Bönningheim um das Team von Prof. Dr. Karl-Heinz Umbach für das laufende Projekt „Living Science – Steinzeit“ untersucht und die Ergebnisse in die Fernsehserie des SWR einfließen lassen. Wie gut schützte Ötzis Kleidung vor der Witterung, wie ist der Vergleich zu modernen Funktionstextilien bei der Jagd oder der Überquerung der Alpen? Zum Vergleich wanderten zwei Teams über die Alpen: eines mit moderner Kleidung und eines mit den Kleidern, die Ötzi vor 5.300 Jahren trug.
Atmungsaktivität
Mit Hilfe von Thermoregulationsmodellen können die Forscher Schwitzen und Wärmeabgabe des Menschen simulieren und verlässliche Vorhersagen über den Temperaturbereich treffen, für den Kleidungsstücke und Kleidungskombinationen am besten geeignet sind. Wichtiger Faktor dabei ist die Fähigkeit, dampfförmigen wie auch flüssigen Schweiß aufzunehmen und vom Körper abzuleiten.
So liegt die Atmungsaktivität eines modernen T-Shirts um das 5,5fache höher als die des Lederhemdes, das Ötzi trug. Er verwendete das gleiche Material auch für seine Leggings und Armlinge. Beim Transport des flüssigen Schweißes weisen die Materialien aus der Neuzeit einen um rund 3,6fach höheren Wert auf.
Überrascht waren die Forscher von Ötzis Lendenschurz aus Hirschleder. Er war ordentlich atmungsaktiv und transportierte den Schweiß gut vom Körper weg. Aber im gesamten Kleidungssystem spielt der Lendenschurz nur eine untergeordnete Rolle bei der Bedeckung der Hautfläche.
Nach Standardprüfvorschrift BPI 1.3 wird bei der Ermittlung der Trockenzeit die restliche Feuchte bis 65 Prozent bei 20 °C angegeben. Und hier zeigt sich der besondere Nachteil der steinzeitlichen Kleidung: durch Regen oder Schwitzen nach körperlicher Anstrengung wird die eingebrachte Feuchtigkeit nur langsam wieder an die Umgebung abgegeben. Das Lederhemd, die Leggings und die Armlinge brauchen rund 6 Stunden bis sie wieder trocken sind. Der Lendenschurz aus Hirschleder braucht nur 42 Minuten.
Da Wasser ein hervorragender Wärmeleiter ist, kühlt der Körper über feuchte Kleidung schnell aus. Zusammen mit dem Energieentzug durch die Verdampfung aus der trockenen Kleidung stellten die langen Trocknungszeiten für Ötzi und seine Zeitgenossen nicht nur eine Einschränkung des Tragekomforts dar, sondern bilden auch eine gesundheitliche Gefahr durch Unterkühlung. Ein moderner Fleece-Pullover und eine Wanderhose sind nach 30 Minuten wieder trocken, ein T-Shirt nach 19 Minuten. Moderne Outdoorjacken mit Membran-Funktion erweisen sich zudem heute als undurchlässig gegenüber von außen herangetragener Feuchtigkeit.
Wärmeisolation
Wichtig für den Tragekomfort ist die Wärmeisolation. Als Berechnungsgrundlage wurde eine für die Alpenregion übliche Windbewegung von 7,2 km/h herangezogen. Das entspricht der Windstärke 2. Hier zeigt sich die gute Wahl Ötzis. Ohne Grasmantel weisen die Leder- und Fellstücke eine um 8,7 Prozent höhere Wärmeisolation auf. Allerdings hatte der SWR als moderne Vergleichstextilien nur leichte Outdoor-Kleidung für eintägige Wanderungen bei mittlerem Klima ausgewählt. Moderne Kleidung weist eine günstigere Wärmeisolation auf, wenn man sie in Relation zum Gewicht setzt. An Leder und Fellen hatten unsere Vorfahren schwerer zu tragen als zeitgenössische Wanderer. Vor allem bei langen Wanderungen und bei körperlich aktiven Jagdausflügen hat die Kleidung die Steinzeitmenschen körperlich deutlich belastet.
Bei der Beurteilung der Atmungsaktivität schnitt die steinzeitliche Lederbekleidung im Vergleich zu moderner Funktionsbekleidung schlecht ab. Lediglich der Lendenschurz aus Hirschleder erreichte akzeptable Werte. Hohensteiner Institute
Tragekomfort
Die Hohenheimer Wissenschaftler haben auch versucht herauszufinden, welchen Zweck der Grasmantel hat. Spekulationen, dass Ötzi ihn als Wind- und Regenschutz mitführte, wurden widerlegt. Er hat die Wärmeisolation nur um 7,3 Prozent erhöht. Wind und Feuchtigkeit können durch die grobe Flechtstruktur weitgehend ungehindert hindurch. Prof. Umbach geht daher davon aus, dass der Grasmantel als Sitzunterlage bei Pausen und in der Nacht mitgeführt wurde.
Insgesamt sind die steinzeitlichen Kleidungsstücke von höherer Steifigkeit. Vor allem das Lederhemd, die Leggings und Armlinge wirken auf das Haut- und Tragegefühl negativ.
Ötzi hatte es warm
Bei den Parametern Atmungsaktivität und Schweißtransport geraten Ötzis Kleidungsstücke gegenüber der modernen Kleidung ins Hintertreffen. Allerdings hatte die steinzeitliche Kleidung bessere Werte bei der Wärmeisolierung. So konnte Ötzi sein Outfit bei etwas tieferen Temperaturen tragen, ohne zu frieren. Bei Windstärke 2 und Temperaturen um - 5 °C hatte er es bei der Alpenüberquerung ausreichend warm. Daraus schließen die Hohensteiner, dass es vor 5.300 Jahren in den Alpen wärmer gewesen ist als heute, oder das Ötzi in der wärmeren Jahreszeit unterwegs gewesen ist.
Allerdings hätte er sich nicht übermäßig bewegen wollen. Bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent geraten Menschen im modernen Outfit erst ab 28 °C in übermäßiges Schwitzen. Bei Ötzi wäre es ohne Grasmantel bereits bei 11 °C gewesen. Beim Jagen bei einer Umgebungstemperatur von 5 °C drohte Ötzi bereits nach 45 Minuten ein Kreislaufkollaps durch Hyperthermie, da sein Körper infolge der eingeschränkten Atmungsaktivität der Kleidung nicht mehr gekühlt wurde.
Mehr über die Steinzeit gibt es unter www.swr.de/steinzeit
roRo; Grafik: Hohensteiner Institute