Thiamethoxam zwischen Politik und Praxis
Landwirtschaft
Die Notfallzulassung von Neonics bleibt ein Streitfall
Die Vergilbungskrankheit hat 2020 vor allem in Süddeutschland zugeschlagen. Das von Blattläusen übertragene Virus hat aber auch Rübenschläge in Niedersachsen befallen. Das hat zur Notfallanwendung des Neonicotiniods Thiamethoxam geführt. Und sogar den Landtag in Niedersachsen beschäftigt. Bündnis 90/Die Grünen haben die Kontrollergebnisse zum Anlass genommen, Politik und Rübenbauern zu kritisieren. Miriam Staudte sagte dem Norddeutschen Rundfunk: „Hier wird versucht, den großflächigen Einsatz der verbotenen Neonicotinoide wieder salonfähig zu machen.“ Die agrarpolitische Sprecherin führte an, die Notfallzulassung sei für eine zu große Fläche genehmigt worden. Das giftige Beizmittel gelangt im Boden und werde zudem von anderen Pflanzen aufgenommen, auf denen sich Bienen vergiften können.
Die Prüfergebnisse
Das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz teilte Ende Oktober mit, dass in Niedersachsen 99.142 Hektar Rüben inklusive 1.336 Hektar Ökorüben angebaut wurden. Die Notfallzulassung wurde für 18.661 Hektar genehmigt. Die Flächen lagen in den insgesamt 42 Landkreisen in 17 Landkreisen und umfassten zwischen 86 Hektar im Heidekreis und 4.092 Hektar im Landkreis Wolfenbüttel. Im Heidekreis entspricht das rund 4,4 Prozent der Rübenfläche, in Wolfenbüttel sind es 53,6 Prozent der Rübenfläche.
Das gebeizte Saatgut wird von den Zuckerfabriken gegen Angabe der Flurstücke ausgegeben. Insgesamt 90 Schläge wurden durch Vor-Ort-Kontrollen der Landwirtschaftskammer Niedersachen überprüft. Bei 37 Kontrollen gab es Beanstandungen, die aber nicht zwangsweise im Zusammenhang mit der Beize stehen müssen.
In der Detailauswertung wurde in sieben von 22 Kontrollen zum vorgegebenen Mindestabstand zum Ackerrand auch in der äußersten Reihe mit Thiamethoxam-gebeiztes Saatgut genutzt wurde und der Mindestabstand von 45 Zentimeter nicht eingehalten wurde [1]. Vereinzelte Rübenschläge hatten das gebeizte Saatgut verbotenerweise auf Feldern mit angelegten Blühstreifen ausgebracht, die nach der mit Nachkontrolle ein einigen Fällen geschröpft werden mussten.
Mängel gab es auch bei der Dokumentation. In 82 Fällen gab es keine Rückmeldung über die Aussaat an die Nordzucker AG und in 27 Fällen ging die Meldung verspätet, mehr als sieben Tage nach der Saat, ein.
In allen Fällen werden die Landwirte bei Verstößen gegen die Allgemeinverfügung nach § 8 des Pflanzenschutzgesetzes mit einem Bußgeld belegt. Bei Standardverstößen wird Geld aus der ersten Säule der Direktzahlungen einbehalten.
Die Notfallzulassung ist mit ihren Auflagen und Kontrollen so aufwendig, dass die Genehmigung für die oben aufgeführten 34.700 Hektar nur zu 54 Prozent ausgeschöpft wurde. Die Landwirte haben eher auf das gebeizte Saatgut verzichtet und sind befallsorientiert mehrfache Spritzgänge gegen Blattläuse gefahren.
Für Miriam Staudte ist noch eine andere Antwort offen: Nicht genutztes Saatgut muss an die Nordzucker zurückgegeben werden. Da Niedersachsen aber keine Notfallzulassung für 2022 plant, befürchtet die Agrarpolitikerin, könnte das Saatgut illegal genutzt werden.
Wettbewerb
Andere EU-Länder sind mit Notfallzulassungen flexibler und erzielen zusätzliche Kostenvorteile, die den Anbau von Rüben in Deutschland erschwert.
Dazu schreibt Miriam Staudte auf Anfrage folgenden Kommentar für Herd-und-Hof.de:
„Die Nordzucker AG führt für den Einsatz von Neonicotinoiden an, dass diese in mehreren anderen EU-Ländern trotz des generellen Verbots immer wieder Notfallzulassungen erhalten. Richtig wäre gewesen, wenn Bundesagrarministerin Julia Klöckner sich in Brüssel für ein einheitliches Vorgehen und zwar ohne Neonics eingesetzt hätte. Da die Nordzucker AG auch Zuckerfabriken in Polen, Litauen, Finnland und Dänemark betreibt, ist sie selbst Profiteurin der dortigen Notfallzulassungen. Es ist nicht auszuschließen, dass dort wie auch hier Lobbyarbeit für diese Notfallzulassungen betrieben wurde. Dies alles geschieht vor einem hart umkämpften Zuckermarkt insbesondere innerhalb der EU. Nach dem Wegfall der EU-Quotenregelung für den Zuckeranbau im Jahr 2017 kam es zu einer deutlichen Ausweitung der Anbauflächen, Züchtungserfolge haben zusätzlich zu Ertragssteigerungen geführt. Als Folge kam es zu einem Preisverfall. Aktuell hat sich der Zuckerpreis auf dem Weltmarkt wieder deutlich erholt, was allerdings mit anderen Faktoren im asiatischen Raum zu tun hat (Exportstopp in Thailand, begrenzte Exportkapazitäten in Indien).
„Es kann keine Antwort sein, auf Kosten der Umwelt immer mehr und immer günstiger zu produzieren.
„Vielmehr müssen andere Kostenfaktoren bei der Zuckerproduktion wie höhere Energiepreise für fossile Energien in den Fokus genommen werden. ZB durch Investitionen in nachhaltige Energieerzeugung bei den Zuckerfabriken. Hier ist eine staatliche Unterstützung sinnvoll.“
Stichwort Notfallzulassung
Für die Notfallzulassung ist das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zuständig. Sie darf auf der Rechtsgrundlage des Artikels 53 der Verordnung EG 1107/2009 in Verbindung mit dem Paragraphen 29 des Pflanzenschutzgesetzes für einen Wirkstoff erlassen werden, sobald „eine Gefahr für die Gesundheit und den Schutz von Kulturpflanzen nicht anders abzuwenden ist“. Die Zulassung für den Notfall wird benötigt, wenn Schadorganismen nicht verfügbaren Pflanzenschutzmitteln oder alternativen Verfahren bekämpft werden können. Das BVL prüft und erlaubt die Notfallzulassung für maximal 120 Tage unter spezifischen Auflagen für die Flächen und den Mittelaufwand [2].
Für Thiamethoxam gab es für das Anbaujahr 2021 sechs räumlich begrenzte Zulassungen als Saatgutbeize. Im Detail wurde für jedes Einzugsgebiet einer Zuckerrübenfabrik die Behandlungsfläche, die maximale Ausbringmenge, die Anwendung, der Aufwand und die Auflagen festgeschrieben.
Vergilbungskrankheit – Damals …
„Die Vergilbungskrankheit hat in den letzten Jahren in Europa ständig steigende wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Sie befällt Zucker- und Futterrüben, Mangold, Rote Rüben, Spinat, Gartenmelde und zahlreiche Wildpflanzenarten derselben Familien.“ Das hat die Biologische Bundesanstalt Braunschweig (BBA) bereits im Mai 1953 in einem Flugblatt verbreitet. Verursacht wird die Krankheit durch einen Virus, den Blattläuse beim Saugen an Pflanzenblättern in die Pflanze bringen. 1935 erstmals in Westfalen entdeckt hat das Virus in den Jahren 1937, 1945 und 1947 schwere Schäden verursacht. Ertragsausfälle bis zu 60 Prozent sind möglich. Die BBA empfahl 1953 zur Bekämpfung das Mittel „Systox“.
Das Mittel wurde zwei- bis dreimal auf die Rüben gespritzt. Dazu wurden 400 Gramm Systox in 400 Liter Wasser aufgelöst und pro Hektar ausgebracht. Systox ist ein gefährliches Gift, wie die BBA betonte. Landwirte mussten eine detailliert beschriebene Schutzkleidung tragen. Die letzte Anwendung ist sechs Wochen vor der Ernte erlaubt, Weidevieh muss acht Tage von den gespritzten Flächen fern gehalten werden. Systox war das erste systemisch wirkende Pflanzenschutzmittel, dass 1951 aus Phosphorsäureester sehr ähnlich wie E 605 entwickelt wurde.
… und heute
Pflanzenschutzmittel sind generell nicht ungefährlich. Auch Thiamethoxam ist giftig. Das Mittel wird aber nicht mehr als Spray über die Fläche verteilt, sondern in zugelassenen Beizstellen auf das Saatgut aufgetragen. Die verteilen rund 90 Gramm auf 100,000 Rübenpillen, die auf einem Hektar ausgesät werden. Erst das gezielte Saatgutbeizen hat der Vergilbungskrankheit nach großflächigen Ausbrüchen in den 1980er Jahren Einhalt geboten, wie Heinrich-Hubertus Helmke, Geschäftsführer des Dachverbandes Norddeutscher Zuckerrübenanbauer (DNZ) gegenüber Herd-und-Hof.de am Telefon sagte. Es wirkt gegen alle Läuse und wird von den Pflanzen über die Wurzeln aufgenommen. Beim Besaugen überträgt sich der Wirkstoff auf die Blattläuse. Es wirkt von der Saat bis zum Reihenschluss der Rübe, also über einen längeren Zeitraum. Daher ist auch Thiamethoxam ein gefährlicher Stoff, dessen Risiko aber bei sachgerechter Anwendung deutlich reduziert ist.
Zuckerrüben und Bienen
Die Notfallzulassung eines Neonicotinoids in Zuckerrüben hat auch in diesem Jahr Landwirten und dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Der Wirkstoff verhindert die Übertragung des Vergilbungsvirus, ist aber hoch toxisch für Bienen. Für Jens Pistorius, Leiter des Instituts für Bienenschutz am Julius Kühn-Instituts, reichen die Vorsorgemaßnahmen im Rahmen der Notfallzulassung aus. Da die Zuckerrübe nicht zur Blüte kommt, sind Bienen und andere Bestäuber nicht gefährdet. Dennoch bestehe das Risiko, den Wirkstoff über den Boden aufzunehmen. Nach Pistorius erlaubt die Notfallzulassung jedoch nur eine deutlich geringere Aufwandmenge als Beizmittel zur Aussaat. Dort wo die Landwirte gebeiztes Saatgut einsetzen, sind Blühstreifen nicht erlaubt. Die so genannten Guttationstropfen, das Wasser, das die Pflanzen an den Blatträndern abgeben und von den Bienen aufgenommen werden kann, trete bei Zuckerrüben gegenüber anderen Pflanzen nur sehr selten auf und werde kaum von den Bienen genutzt [3].
Die aktuelle Lage
Derzeit werden die Daten über das Ausmaß der Vergilbungskrankheit 2021 erhoben. Erst gegen Ende des Jahres sind sie für eine Entscheidung des BVL vollständig. Die Notfallzulassung gab es wegen des Ausmaßes der Krankheit und nicht nur in Deutschland. In der Bundesrepublik gab es einzelne Regionen mit nesterhaftem Auftreten, was das BVL als Grundlage für die Entscheidung der Notfallzulassung 2021 genommen hat. In Nordfrankreich, dem wichtigsten Rübenanbaugebiet des Nachbarlandes, sind die Schäden großflächig aufgetreten. Die Regierung hat die Notfallzulassung gleich für drei Jahre per Gesetz über die Nationalversammlung erlaubt und wird sie jährlich durch die Fachbehörden präzisieren lassen, erklärte Helmke.
2021 haben die Bundesländer einzeln Anträge auf Notfallzulassung von Thiamethoxam für den Rübenanbau beantragt. Unter anderem Schleswig-Holstein mit einem grünen Agrar- und Umweltminister. Im Gegensatz zu diesem Jahr wird Niedersachsen auf einen Antrag verzichten. Dieses Statement in der Antwort an Bündnis 90/Die Grünen ruft bei den Rübenbauern Unverständnis hervor. Die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker (WVZ) hat gerade einen Antrag auf Prüfung eingereicht.
Mehr als 25 Jahre lang haben die Rübenbauern Neonicotinoide als Beizmittel eingesetzt und es liegt kein einziger Fall von Schäden an Bestäubern vor. Für die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln liegen sachliche und fachliche Richtlinien vor. Für die Notfallzulassung haben der DNZ und die Zuckerfabriken ihren Rübenbauern vor der Aussaat die genauen Richtlinien mehrfach mitgeteilt und die Berater informiert. Weil die Auflagen so komplex waren, haben in Niedersachsen die Hälfte der Rübenbauern auf die Anwendung verzichtet und bei Bedarf nach Schadensschwelle gegen Blattläuse gespritzt.
Heinrich-Hubertus Helmke ist es wichtig, auf die Bedeutung der Pflanzenschutzmittel hinzuweisen. Auch der ökologische Landbau nutzt Mittel, bienengefährliche wie Spinosad über Notfallzulassungen, um den Schaderregern Herr zu werden. Seit Jahren werben die Verbände auch mit Tagen des offenen Hofes einzelner Rübenbauern für Grundkenntnisse über die Landwirtschaft. Chemie und Physik gehören zu den natürlichen Lebensbedingungen dazu.
Lesestoff:
[1] Nach rund 180 Wachstumstagen wird aus einer Pille (Rübensamen) mit einem Durchmesser von 5 mm eine Rübe von 800 bis zu 1200 Gramm Gewicht. Wird die Pille exakt auf 45 cm Abstand gesät, hat das Dickenwachstum der Rübe bis zum Erntezeitpunkt einen guten Teil des räumlichen Abstandes bereits überbrückt. Die Kontrollen begannen im August.
[2] Notfallzulassung BVL: https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/04_Pflanzenschutzmittel/01_Aufgaben/02_ZulassungPSM/01_ZugelPSM/02_Notfallzulassungen/psm_ZugelPSM_notfallzulassungen_node.html
[3] Zuckerrübe 05/2021
Sonstige:
Die EU-Kommission beobachtet die Anzahl von Notfallzulassungen auf Missbruach: https://herd-und-hof.de/landwirtschaft-/missbrauch-von-notfallzulassungen.html
Interview mit der WVZ: https://herd-und-hof.de/landwirtschaft-/rueben-und-bauern-unter-stress.html
Der schwere Weg für die Öko-Rüben: https://herd-und-hof.de/landwirtschaft-/oekorueben-in-norddeutschland.html
Roland Krieg
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