Tierschutz, Leistung und Gesundheit
Landwirtschaft
DVG-Kongress in Berlin
>Tierische Nahrungsmittel sind energiereich, wohlschmeckend und gehören zur Ernährung einfach dazu. Das heute für ein Ei nur noch halb so viel Futter für die Henne notwendig ist, beschreibt den züchterischen Erfolg der letzten Jahrzehnte. Notwendig sind diese Arbeiten auch, weil die Verbraucher lieber preiswerte Nahrung kaufen. Der Druck auf die Produktionsverfahren ist enorm und gerät nur in die Öffentlichkeit, wenn die schlimmsten Auswüchse über Massentierhaltung publik werden. Die Abscheu und Klagen der Verbraucher über die Legehennenhaltung führte schließlich zu einem Käfigverbot mit Übergangsfrist durch das Bundesverfassungsgericht. Was aber ist mit all jenen „kleinen“ Krankheiten, unter denen die Nutztiere leiden und die weniger „öffentlichkeitswirksam“ sind? Mastitis, Fruchtbarkeitsstörungen oder Lahmheit senken die Nutzungsdauer der Milchkühe auf unter drei Jahre, in manchen Bundesländern auf weniger als zwei Jahre, beklagte Präsident Prof. Dr. Holger Martens in seiner Eröffnungsrede zum zweitägigen Kongress der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft (DVG) am 01. und 02. April in Berlin. Die DVG ist mit dem Gründungsjahr 1949 die älteste Organisation der Tiermedizin in der Bundesrepublik und gliedert sich in 47 Fachgruppen mit Tierärzten aus Wissenschaft, der Praxis, Behörden und Politik. Der Kongress im Institut für Physiologie, Molekularbiologie und Biochemie der Freien Universität Berlin, möchte „die Dinge beim Namen nennen“.Politisch hochaktuell
Staatssekretär Alexander Müller aus dem Bundesverbraucherministerium beschrieb die politische Brisanz des Themas. Die neuen EU-Mitgliedsstaaten und die Kandidaten für die nächste Erweiterungsrunde wollen Kühe, die wie in Deutschland 10.000 kg Milch pro Jahr geben. Von den tiergesundheitlichen Problemen, die solche Leistungen nach sich ziehen, wollen sie nichts hören. Aber auch die Verbraucher unterliegen immer noch romantisierten Vorstellungen, die nicht zuletzt aus beliebten Fernsehserien wie „Der Doktor und das liebe Vieh“ stammen. Das ist nicht das tatsächliche Bild des Tiermediziners, so Müller.
Der Kongress hat mit dem Thema Tierschutz, Leistung und Gesundheit alle wichtigen Begriffe zusammengeführt, die jeweils alleine nicht ausreichen, um die Situation der Nutztiere zu beschreiben. Diese „Trias“ muss zusammen geführt werden. Internationale Bedeutung erfährt die Trias durch die Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO), die Ende des Jahres erfolgreich die nächste Verhandlungsrunde beenden will. Zölle und Exportsubventionen müssen runter: dafür sollen die Standards steigen.
Tiergesundheit wäre einer davon. Tierschutz beschreibt schon längst nicht mehr nur den Platzbedarf der Tiere im Stall. „Ich glaube, dass wir bei den technischen Kriterien am Ende angelangt sind“, so der Politiker. Man müsse sich von der Vorstellung verabschieden, dass nur ein gesundes Tier eine hohe Leistung erbringen kann. Man brauche ein Management, dass sich unmittelbar am Tier orientiert. Da müssen Halter und bestandsbetreuender Tierarzt zusammenarbeiten. Schließlich „müsse man ernsthaft wissen“, dass rund 50 Prozent der Schweine in Deutschland lungenkrank sind. Das gesundheitlich unbedenkliche Fleisch stammt folglich von Tieren, die zu Lebzeiten krank gewesen sind.
Die Ethik der Genesis
Gerade im Bereich des Tierschutzes stehen sich verschiedene Positionen unversöhnlich gegenüber. Offensichtlich gibt es unterschiedliche Vorstellungen über Sollverhalten und Rücksichtspflichten. Prof. Dr. Jörg Luy vom Institut für Tierschutz und Tierverhalten der FU Berlin sieht einen Wandel von der religiösen Beschäftigung mit der Ethik, über die philosophische Betrachtung bis hin zum Sittengesetz, beispielsweise Kants’ „kategorischen Imperativ“. 1789 definierte Jeremy Bentham bereits eine „Pathozentrische Ethik“, die eine moralische Pflicht herleitet, wenn der Mensch durch sein Handeln Schmerz hervorruft („Pathos“ = Leiden). Die EU zeigte mit dem „Vertrag von Amsterdam“ 1999, dass solche Diskurse auch real umsetzbar sind. Im Tierschutz-Protokoll verpflichten sich die Länder „das Wohlergehen der Tiere als fühlende Wesen“ zu achten.
In der Praxis sind Parameter wie Fruchtbarkeit, Konstitution oder Erbkrankheiten noch zu wenig beachtet. Das betriebswirtschaftliche Optimum und das Optimum der Tiergesundheit fallen nicht immer zusammen.
Unglücklicherweise werden Vorgaben auch unterschiedlich interpretiert. So darf nach EU-Gesetzgebung der Genotyp (genetische Ausstattung der Tiere) oder der Phänotyp (physiognomische Ausstattung der Tiere) deren Gesundheit oder Wohlergehen nicht beeinträchtigen. Deutschland leitet im Tierschutzgesetz daraus ein Züchtungsverbot für negative Eigenschaften ab. Österreich definiert daraus die Erhaltung von Körperfunktionen.
Das kann zu Verirrungen führen, denn beispielsweise in der Putenzucht sind Knochenschäden durch überschwere Schlachtkörper hervorgerufen, in Deutschland sanktionierbar, wenn hier gezüchtet würde. Die Haltung nicht. Da jedoch, so Prof. Luy, die Zucht in Großbritannien stattfindet, verstößt die Putenproduktion nicht gegen das Tierschutzgesetz.
Das Ziel der Ethik im Bereich des Tierschutzes ist die Nutzung von Tieren unter Vermeidung von Schmerzen, Leiden oder Schäden bei der Anpassung an Umweltbedingungen. Demzufolge ist es unerheblich, ob die Haltung dem Tier oder das Tier züchterisch an die Haltung angepasst wird. Damit wäre das stumpfsinnige Tier, das über sein Käfigdasein hinaus keine weiteren Bedürfnisse mehr hat der pathozentrischen Ethik gemäß gehalten. Die Tierschützer jedoch verfolgen das Ziel der Anpassung der Haltung an die artgerechten Lebensweisen. Das Ende solcher Diskussionen ist nach Prof. Luy nicht vorhersehbar. Hier kommt der Mensch mit seinen Vorstellungen und Wünschen ins Spiel. Im Tierschutz werden solche Aspekte als „anthropozentrisches Zusatzargument“ bezeichnet. Eines davon steht bereits im Fleischhygienegesetz: „Fleisch von Affen, Hunden und Katzen darf für den Genuss für Menschen nicht gewonnen werden.“
Tierschutz und Markt
In der praktischen Anwendung des Tierschutzes liegt reichlich Zündstoff, wie auch das Tierschutzsymposium des Deutschen Bauernverbandes zeigte. Dr. Antoine Götschel von der schweizerischen Stiftung Tier im Recht verwies auf dem DGV-Kongress auf die Schweiz, die vor 20 Jahren in der artgerechten Tierhaltung eine Chance sah, Verbrauchervertrauen wieder zu gewinnen und heimische Produkte abzusetzen. Die Schweizer Verbraucher zahlen lieber etwas mehr für ihre Produkte. Allerdings wusste er in der Diskussion keine Antwort auf die Frage, ob „mehr Markt“ in der Schweiz nicht auch diesen Vorsatz aushöhlen kann. 2005 kommt Aldi.
Prof. Dr. Folkhart Isermeyer vom Institut für Betriebswirtschaftslehre an der Braunschweiger Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) ist auch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung für Agrarpolitik und Nachhaltige Landbewirtschaftung. Er sieht die Bauern in einem Spannungsbereich zwischen den gesellschaftlichen Kritiken an der Nutztierhaltung und dem Unternehmerbereich, Tierprodukte im internationalen Wettbewerb bei steigenden Kosten bereitzustellen. Generell dürfe den Bauern unterstellt werden, dass „sie ein Stück weit Tierschutz“ als selbstverständlich erachten, weil sonst gar keine Leistung zu erzielen ist. Treffen allerdings die Bauern mit ihrer Haltung nicht das gesellschaftliche Optimum, so rufen die Verbraucher nach der Politik, es zu erzielen.
Die Politik habe nun zwei Möglichkeiten: Sie kann einmal über Richtlinien und Fördermittel andere Haltungsformen erzwingen oder an die Verbraucher appellieren, mit ihrem Einkauf die gewünschten Haltungsformen zu unterstützen. Da allerdings die Mehrheit der Kunden preisorientiert einkauft, sehen die Wissenschaftler im Beirat für die letzte Variante nur geringe Erfolgsaussichten. Dazu müsse man wissen, dass es für die Industrie sehr kostenintensiv ist, gewünschte Haltungsformen über die Werbung am Markt zu positionieren und der Verbraucher durch die Vielzahl an Lebensmitteln und Labeln schon fast überfordert ist.
So bleibt also nur die Auflage an das Unternehmen als „klassisches Instrument“ der Politik. Dies ist jedoch vom Außenmarkt abhängig, denn der bestehende EU-Protektionismus beschütze gerade die kostenintensiveren Auflagen. Das Dilemma in der Agrarpolitik liegt in der Perspektive, dass im Rahmen der WTO Verhandlungen der Zollschutz wegfallen müsse.
Prof. Isermeyer formulierte einige Handlungsalternativen. Der Versuch Standards, wie auch Tierschutzstandards, international einzuführen, sei im weltweiten Maßstab „illusorisch“. Bereits heute stehe jedes zweite Schwein in China. Ein Importverbot für Produkte unterhalb eines Standards hat heute nur für gesundheitliche Produktqualitäten Gültigkeit.
Prozessqualitäten wie die Tierhaltung sind nicht in der Diskussion und ethischen Bedenken gibt der Ökonom die wenigsten Erfolgsaussichten. Der Staat hat allerdings die Möglichkeit Standards einzukaufen, was er heute bereits umsetzt: Mit der Förderung einer artgerechten Tierhaltung. Auch im Vertragsnaturschutz wird der Bauer für beispielsweise das offen halten einer Heidelandschaft bezahlt. Prof. Isermeyer bezweifelt allerdings, dass für das heutige Ausmaß der Lebensmittelproduktion ausreichend Geld zur Verfügung stände. Zudem werfen die Makroökonomen ein, dass diese Methode die „Fortführung des Protektionismus mit andern Mitteln“ sei. So würde dann nicht mehr die artgerechte Tierhaltung gefördert, sondern die Tierhaltung im Allgemeinen, was dann dem Grundgedanken der Globalisierung entgegenstehe, die Förderungen abbauen möchte. Der Einkauf von Tierschutzstandards im internationalen Maßstab, sei ein akademischer, jedoch kein realpolitischer Weg.
Einen Ausweg sieht der Professor jedoch noch. Doch den Weg über die WTO zu gehen. In den Industrieländern muss es erlaubt sein aus der Ethik heraus, Tierschutzgesetzte zu erlassen. Das sei ein Ausdruck gesellschaftlichen Willens und müsse daher durchgesetzt werden dürfen. Das könne dann auch Maßstab für andere Länder sein.
Die Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirates sind vor diesem Hintergrund daher als Fazit „ernüchternd“. Damit die EU in den WTO-Verhandlungen mit einer Stimme spricht, soll auf nationale Alleingänge verzichtet werden. Es müssen Kriterien auch für funktionsführende Merkmale bestimmt und erforscht werden. Bei allen Merkmalen muss auch die Frage auf den Tisch, ob es sich rechnet und die Formulierung „Tierschutz mit Augenmaß“ beinhalte, dass nicht immer alles umgesetzt werden müsse.
Unfruchtbarkeit bei Hochleistungskühen
Tiergesundheit ist mehr als verschrammte Flanken bei Schweinen oder die Forderung nach mehr Platz als eine DIN A4-Seite für Legehennen. Gehört zur Würde des Tieres nicht auch eine funktionsfähige Fruchtbarkeit bei Kühen dazu? Milch gibt eine Kuh nur nach der Geburt eines Kalbes. Jedes Jahr ein Kalb ist eine betriebswirtschaftliche Forderung. Unfruchtbarkeit ist ein Grund, warum Kühe nach zwei oder drei Jahren wieder aus der Produktion genommen werden.
Petra Bisplinghoff vom Institut für Veterinäranatomie der FU Berlin hat auf dem DGV-Kongress zusammen mit Hana Hüningen und Johanna Plendl die neuesten Forschungsergebnisse über die Infertilität bei Hochleistungskühen auf einem Poster dargestellt.
Als Grundlage dient die Beobachtung, dass nur im Embryo oder bei erwachsenen Tieren in zyklischen Abständen Neubildungen von engsten Blutgefäßen (Kapillaren) stattfinden. Beim erwachsenen Tier bilden diese sich immer wieder zurück. Der Prozess wird Angiogenese genannt und führt bei gestörtem Prozess, also fehlendem Rückbau zu verschiedenen Symptomen, die zu Unfruchtbarkeit führen. Zur Begutachtung wurden im Schlachthof Gelbkörper entnommen und untersucht.
Hochleistungsmilchkühe waren bei der Schlachtung durchschnittlich 55 Monate alt, wiesen 789 Kapillare pro qmm Gelbkörper auf, was einem Flächenanteil von 7 Prozent beträgt. Die durchschnittliche Entfernung zwischen den Kapillaren beträgt 25 Mikrometer.
Zweinutzungsrassen, die weniger Milch geben, waren bei der Schlachtung 67 Monate alt, wiesen 630 Kapillaren bei einem Abstand von 32 Mikrometer auf. Der Flächenanteil betrug 5,9 Prozent.
Das Ergebnis zeigt, dass bei den Hochleistungskühen die Angiogenese intensiver stattfindet, als bei den traditionellen Zweinutzungsrindern. Entweder findet, so die Wissenschaftlerinnen, eine Hochregulierung der Prozesse zur Kapillarbildung statt oder die Gegenreaktion wird gehemmt. Hier besteht noch weiterer Forschungsbedarf.
Der Tagungsband über den Kongress kann unter www.dvg.net bestellt werden (ISBN 3-938026-24-3)
Roland Krieg