Tierwohl richtig verstehen

Landwirtschaft

Tierwohl richtig kommunizieren

Kaum ein Verbraucher kennt alle derzeit auf dem Markt aktiven Tierwohl-Label [1]. Aktuell läuft das Programm von Handel und Bauernverband an, das ohne eigenes Zeichen in die Geschäfte kommt. Schnelligkeit prägt den Markt, getrieben von der Ungeduld der Verbraucher. Vor einigen Jahren wusste kaum ein Konsument von der Ferkelkastration – heute verzieht er das Gesciht. Kunden wollen eine Ringelschwanzprämie, Mehrkosten aber nicht. Schweine sollen mehr Platz haben, aber einfach eine Sau weniger in der Gruppe zu halten, reicht nicht aus. Viel Unkenntnis prägt die Diskussion, mehr Wunsch als Realität. Politik, Handel und Landwirte sind Getriebene, die kaum noch wissen, was richtig ist. Wer will da noch in neue Ställe investieren? Jeder Platz für den sie sich entscheiden, liegt zwischen den Stühlen.

Tierwohl muss sich entwickeln

In den 1950er Jahren war Tierschutz kein relevantes Thema. Die Menschen wollten nach dem zweiten Weltkrieg erst einmal dauerhaft satt werden. Ethische Fragen tauchten so gut wie gar nicht auf. Wer allerdings noch 20 Jahre später Tierställe kennen lernen dufte, dem beschlug im Winter die Brille, Kühe standen angebunden in schlechter Luft. „Sauen standen in ihren schmutzigen Koben allein mit ihren Würmern“, wie Veterinäre zu berichten wissen.

Die sich urbanisierende Gesellschaft zog in Westdeutschland größer werdende Tierställe nach sich, erläuterte Prof. Dr. Thomas Blaha von der Stiftung tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) im Rahmen des Pressegespräches der Bundestierärztekammer (BTK) auf der Grünen Woche.

Vieles wurde in den letzten Jahrzehnten erreicht – aber längst noch nicht alles. Statt alle fünf Jahre das Tierschutzgesetz zu ändern, plädiert Prof. Blaha für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess, der die nächsten Schritte einleitet.

Vor allem warnt die BTK vor Aktionismus und Pauschalisierungen. Tierwohl sei nicht in Quadratzentimeter zu messen, sagte Dr. Sylvia Heesen. Es müssen Tierwohlindikatoren entwickelt werden, die qualitativ anzeigen, wo Nachbesserungen bestehen. Damit hat das Tierwohl auch nichts mit der Stallgröße zu tun, so Blaha, sondern mit der Ausbildung und dem Management des Betriebes: „Es gibt Menschen, die Dinge unterschiedlich gut machen.“

Die Diskussion in der Gesellschaft ist enteilt: „Die Einhaltung von Gesetzen ist nicht mehr das Maß der Richtigkeit“, beklagte Prof. Blaha. Die Kluft zwischen Gesetz und Wunschziel müsse wieder geschlossen werden.

Tierwohl neu definieren

In den letzten Jahren ist der Begriff Tierschutz durch „Tierwohl“ ersetzt worden. Doch was sich dahinter verbirgt ist oft unklar. Milchkühe sind nahezu flächendeckend aus den Anbindehaltungen in moderne Laufställe untergebracht worden. Doch geht es ihnen alleine dadurch besser? Nein, nicht automatisch, ergänzt Prof. Dr. Thomas Richter, BTK-Nutztierhalter an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen. Die Tiere haben neue Probleme. Die einseitige Züchtung auf Hochleistung birgt neue Gesundheitsrisiken. Beispielsweise die Ketose, die durch energiereiche Nahrung entsteht, damit die Tiere ihr genetisches Potenzial für die Milchabgabe abrufen können. Auch Fruchtbarkeitsstörungen sind Hauptursache für Abgänge der Nutztiere nach nur 2,5 Nutzungsjahren. Prof. Richter fordert eine Neuausrichtung der Züchtung. Bei Milchkühen wäre das die Lebensleistung, wie die „100.000 kg“-Kuh [2]. Die Landwirte müssten von der Färse weg, die erst ab 15 kg Milch Tagesleistung „rentabel“ sei. Langlebige Kühe seien ökonomisch günstiger. Dazu gehört neben der Ausbildung der Landwirte auch eine tierärztliche Bestandsbetreuung, fordert Richter.

Die Sache mit dem Ringelschwanz

„Die Gesellschaft muss sich an den Kosten beteiligen“, unterstrich Prof. Richter die Bemühungen für mehr Tierwohl. Die einfache Forderung „Der Ringelschwanz bleibt dran“ darf nicht in der einfallslosen Lösung „Das Schwein braucht mehr Platz“ münden. Diese Ansicht ist vielfach nicht nur bei Verbrauchern weit verbreitet.

Der Ringelschwanz dient ungeringelt oder zwischen den Beinen festgeklemmt als Signal an die Artgenossen und ist damit ein Kommunikationsmittel.

Vergleiche mit Skandinavien haben gezeigt, dass bei gleichem Buchtenbesatz, teilbefestigtem Boden über Gülle, Schwanzbeißen deutlich geringer ist, als bei den deutschen unkupierten Artgenossen. Die schwedischen Schweine hatten auch keine Spielzeuge – aber etwas zum Wühlen.

Das Kupierverbot muss mit der Aufzucht verknüpft sein, teilte Prof. Blaha bei einem Vortrag der TLL mit. Vor allem das Stallklima muss dem Tier angepasst werden. Die Buchten müssen Raum bieten, um „Belästigern“ ausweichen zu können. Wühlen scheint wichtiger zu sein, als Bälle und Ketten zum Spielen. 70 Prozent der Wachzeit verbringt das Schwein mit der Futtersuche. Und vor allem: Die Landwirte müsse wieder lernen, den Status ihrer Tiere durch Beobachten zu erkennen. Klima- und Fütterungsautomatik, so Dr. Blaha, scheint die Fähigkeit zur Tierbeobachtung „abtrainiert“ zu haben. Das Augenmerk sollte die Aufzucht erhalten. Wenn diese „überstanden“ ist, dann tritt in der Mast das Problem Schwanzbeißen kaum mehr auf.

Das Kupieren von Schwänzen ist also kein Tierschutz, wie Prof. Richter unterstreicht, weil es sonst zu Kannibalismus kommt, sondern der Tierschutz resultiert aus Fütterung, Stallklima, Haltung und Betriebsmanagement [3].

Gesundheitskontrollprogramm

Dr. Sylvia Heesen führte das seit dem 01.01.2015 geltende „Gesundheitskontrollprogramm“ auf, das die vor zwei Jahren erlassenen Eckwerten Putenmast [4] komplementiert. Je kleiner die Tiere sind, desto mehr Probleme beim Tierschutz gibt es, erklärte Dr. Heesen. Dennoch gilt: „In der Putenmast haben wir die weltweit höchsten Tierschutzstandards.“

Das Konzept ist komplex. Mit der Schlachtabrechnung werden die Befunde der Schlachtkörper den Haltern mitgeteilt und bei Schwellenüberschreitungen der Tierarzt eingeschaltet. Es folgt ein Gesundheitsplan, nach dem bei Bedarf die Lebendgewichte pro Quadratmeter von 52 Kilo bei Hennen und 58 Kilo bei Hähnen reduziert wird. Wer an dem Gesundheitsplan nicht teilnimmt, der darf nur noch 45 und 50 kg Lebendgewicht aufstallen. Damit greift die Veterinärbehörde aktiv in den Tierbestand ein und kann diesen bei Gesundung wieder erhöhen.

Im letzten Jahr wurden Tierschutzindikatoren aufgestellt, die bei der Schlachtung erkennbar und einem Problem zugeordnet werden können. Erst Ende des Jahres wurde nach Dr. Heesen der Indikator „Fußballengesundheit“ wissenschaftlich für die Bewertung abgesichert. Seit Anfang Januar läuft ein Praxistest.

Score Cards

Score Cards sind Bewertungsbögen für die Qualifizierung und Steuerung von Prozessen. Diese Methode wird auch in der Tierhaltung eingesetzt [5]. Das Konzept „Privathof-Geflügel“ setzt ebenfalls solche Bewertungsbögen ein, erklärte Dr. Elke Rauch, BTK-Veterinärin an der LMU München. Die Entwicklung solcher Parameter wurde wissenschaftlich begleitet. Pro Mastdurchgang wurden die Tiere drei bis vier Mal begutachtet und Tiergesundheitsparameter und Stallklima bemessen. Am Mastende folgte mit dem „gait score“ eine Bewertung zur Gehfähigkeit. Außerdem wurde das Verhalten der Tiere wöchentlich ermittelt und bestimmte Parameter erhoben: Fußballengesundheit und Fersenhöckerveränderungen wurden am Schlachthof gemessen. Die Haltungsbedingungen zeigten in diesem Konzept eine Verringerung der Schäden an Fußballen und Fersenhöckern.

Die Tiere wurden langsamer gemästet und erreichen ihr Schlachtgewicht erst nach 40 bis 42 statt nach 30 bis 32 Tagen. Die Besatzdichte liegt mit 25 Kilo Lebendgewicht pro Quadratmeter um zehn qm niedriger als im konventionellen Bereich. Am Ende zeigten die Tiere eine unauffälligere Gangart.

Die Experten der Bundestierkammer nahmen sich bei den Vorträgen und Beantwortung der Fragen viel Zeit. Eine Herzenssache. Doch leider war bis auf einen Journalisten leider nur die Fachpresse der Einladung der BTK gefolgt.

Lesestoff:

[1] Der Wettbewerb um das Tierwohl läuft

[2] Die hessische 100.000 kg-Kuh

[3] Modell- und Demonstrationsbetriebe

[4] Freiwillige Branchenverpflichtung zur Putenhaltung

[5] Scorecards für Tierwohl und Lebensmittelindustrie

Roland Krieg, Fotos: roRo

[Sie können sich alle Artikel über die diesjährige Grüne Woche mit dem Suchbegriff „IGW-15“ anzeigen lassen]

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