Wer entwickelt das Land: Mensch oder Kapital?
Landwirtschaft
MeLa-Kongress zur Nachhaltigen Entwicklung des Landes - I
Seit heute trifft sich (fast) ganz Norddeutschland in Mühlengeez in Mecklenburg-Vorpommern) zur diesjährigen MeLa (s. Terminvorschau). Das sonnige Wetter soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der ländlichen Raum Sorgen hat. Über die „Nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume“ tagte gestern der dritte MeLa-Kongress in Güstrow.
MV hat viel Land
Im Vorgespräch begründete Landesbauernpräsident Rainer Tietböhl, warum ihm der ländliche Raum so am Herzen liegt: „Wir haben sehr viele ländliche Räume.“ Als Verbandsvertreter will er dafür sorgen, dass der ländliche Raum „auf keinen Fall vergessen wird“. Es gelte, diesen so attraktiv zu gestalten, dass die Menschen und vor allem die Jugendlichen bleiben. Tietböhl geht es darum, dass möglichst viele Gelder aus ELER (Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums) in die erste der vier Förderachsen wandert. Die Straßen müssen in Ordnung gebracht werden, manche Dörfer haben keine Telefonzellen oder einen Internetanschluss und manche gar „drohen zusammengeschoben zu werden“, so der Präsident. Manches „Dorf“ von ursprünglich 15 Familien beherberge nur noch eine einzige, was verwaltungstechnisch in keinster Weise mehr aufrecht zu erhalten ist.
Viel Arbeit nehmen die Landfrauen auf sich, die Menschen aus ihren Häusern holen und über Vereine soziale Bindungen pflegen und herstellen. Dazu müsse es in jedem Dorf mindestens einen Raum geben, in dem sich die Menschen treffen können.
Rainer Tietböhl stellte aber auch eines klar: „Zuerst muss die Wirtschaft vorangetrieben werden!“ Schaffe man zunächst Arbeit im Dorf, dann bleiben auch die Menschen. Die Arbeit kann jedoch nicht ausschließlich im touristischen Bereich geschaffen werden.
Faktor Mensch
Im Dezember 1990 hatte MV noch 1.906.678 Einwohner. Ende 2005 waren es nur noch 1.707.300 Menschen. Prof. Dr. Dinkel, Demograph von der Universität Rostock, aber warnt: möglicherweise erscheinen die Wanderungsverluste nur gering, aber sie haben große Auswirkungen. Es sind rund 10 Prozent der Jahrgänge, die MV verlassen und die Abwanderung konzentriert sich auf die jungen Menschen. Bei den Frauen gehen überwiegend die 19- bis 21-jährigen, bei den Männern die 20- bis 30-jährigen. Die Nebeneffekte sind genauso dramatisch, wie der Wanderungsverlust an Energie und Kreativität: Die Grundschulen sind auf Kapazitäten bis zu 13.000 Schülern ausgelegt, aber es sind nur noch 6.000 Grundschüler vorhanden, während die Kosten für die „großen Schulen“ weiterlaufen. In den Lehrberufen, in denen die Jugend heute keine Ausbildungsplätze mehr finden kann, werden in kurzer Zeit nicht mehr genügend Auszubildende zur Verfügung stehen.
Es gibt aber keine Umkehrung des Trends mehr. Zwar wird sich der Schrumpfungsprozess etwas abmildern, aber er wird sich nicht aufhalten lassen, prognostiziert Dr. Dinkel.
Welche Ausmaße der Prozess angenommen hat, veranschaulichte der Demograph mit einem Rechenbeispiel. In MV haben die Familien aktuell 1,45 Kinder, liegen damit leicht über dem Bundesdurchschnitt und wird sogar noch leicht ansteigen. Um jedoch die Abwanderungswelle auszugleichen, müsste jede Familie drei Kinder haben, was völlig unrealistisch ist. Prof. Dinkel beschreibt für MV allerdings einen Prozess, der nicht nur in Ostdeutschland auftritt, sondern auch in anderen Regionen, wie Mittelhessen oder Franken. Sogar europaweit gibt es Regionen und ganze Länder, die unter vergleichbaren demographischen Entwicklungen leiden. Irland hat sich aus einem armen Land zu einem Wirtschaftstandort entwickelt, weil sie über 100.000 Polen und 50.000 Balten ins Land geholt haben. Das sind junge, leistungsorientierte und gut ausgebildete Menschen gewesen, die an dem irischen Wirtschaftwunder mitgearbeitet haben. Ein Weg für MV?
Es gibt aber Dörfer und Gemeinden, die sich besonders hervortun, weswegen sich die Universität Rostock mit der Fachhochschule Neubrandenburg im letzten Jahr zusammen getan hat, um zu schauen, welche Kräfte den Erfolg von Dörfern ausmachen können. Die Aktion „Das soziale und aktive Dorf“ hat in diesem Sommer seinen Abschlussbericht vorgelegt und Dr. Claudia Neu fasste die Ergebnisse kurz zusammen.
Die Dörfer Balow, Bröbberow, Spoldershagen, Spornitz und Woggersin sind alle keine „wirtschaftlichen Vorzeigedörfer“. Sie haben alle kein richtiges Gewerbegebiete, keinen Tourismus, Flurneuordnungen sind nicht überall durchgeführt worden und nur Spornitz hat einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, der 70 Arbeitsstellen bietet. Alle zeigen hohe Pendlerbewegungen, wobei Spoldershagen durch die Nähe Rostocks und Woggersin durch die Nähe Neubrandenburgs profitiert. So gibt es in allen Gemeinden kaum einen großen Arbeitgeber, charakterisiert Dr. Neu die Dörfer. Und trotzdem gibt es starke kulturelle und soziale Stärken. In Balow sind von 355 Einwohnern 200 Mitglied im örtlichen Sportverein „Traktor“ und die „Balower Plattsnackers“ haben 60 Mitglieder. In Bröbberow haben die Einwohner zusammen ihre alte Dorfschule, die Molkerei und das Zollhaus wieder aufgebaut. Der „Tonnenbund“ in Spoldershagen ist über seine Region hinaus bekannt.
Dr. Neu sieht in engagierten Bürgermeistern die Zugpferde, die solche Entwicklungen möglich machen. Bürgermeister, denen kein Formular zu schwer zum Ausfüllen ist, die sich im Förderlabyrinth auskennen und ihre Kontakte nutzen, Geldquellen anzuzapfen. Wasser in den Wein müsse Dr. Neu jedoch auch gießen: Bürgerliches Engagement ist nicht alles – auch diese Dörfer leiden unter der demographischen Entwicklung. Die Landwirtschaft hat fast keine direkte Rolle bei der Entwicklung des bürgerlichen Engagement gespielt, überraschte Dr. Neu – aber sie ist überall präsent und hilft mit Gerätschaften bei der Wegegestaltung aus oder tritt als Sponsor in den Vordergrund. Als Erfolgsfaktor sind „Kultur und Zusammenhalt größer gewesen als der Faktor Arbeit“. Preiswerte Baugrundstücke und Aufnahme der Hinzugezogenen in die bestehende Dorfgemeinschaft hat die Bindungen gestärkt.
Faktor Kapital
Agrarminister Dr. Till Backhaus nutzte die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen: „Die Förderung der ländlichen Räume ist und bleibt Schwerpunkt der Politik der Landesregierung.“ Im letzten Jahr wurden 290 Investitionsbewilligungen in Höhe von 13 Millionen Euro ausgesprochen. 35 Projekte der Ernährungswirtschaft bekamen 29,3 Millionen Euro Investitionshilfen. Seit 1990 sind eine Milliarde Euro geflossen, die ein Investitionsvolumen von zwei Milliarden Euro ausgelöst haben. In diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Biogasanlagen verzehnfacht und MV ist Nettoexporteur von Bioenergie geworden. So soll es auch weiter gehen, denn für die nächste Förderperiode bis 2013 werden in der ersten Säule der Agrarpolitik in MV jährlich 420 Millionen gezahlt und in er zweiten Säule 168 Millionen – und der Ökolandbau bekommt neben Zusagen für Umsteigewillige auch jährlich 50 Millionen, womit MV sein Image als Gesundheitsland unterstreichen kann und den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen nicht empfiehlt, so Dr. Backhaus. Potenzial für Innovationen sieht der Minister im Bereich neuer Produkte, die näher betrachtet eine Rückbesinnung auf alte sind: Rinder weisen durch ihren Weidegang und die natürliche Gras- und Kräuterration höhere Omega-3-Fettsäuren auf, als die Tiere, die auf einen Weidegang verzichten müssen. Hier sollen „Nahrungsmittel mit neuen Qualitäten“ im Gesundheitsland vermarktet werden.
Roland Krieg
[Im zweiten Teil in dieser Woche berichtet ein praktischer Landwirt, wie Alternativen aussehen sollen, wie Dr. Backhaus sich die Veränderungen der Landwirtschaft vorstellt und in welcher Investitionsfalle die Bauern stecken